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Eine fantastische Frau

Von Aufrechtgang und Menschbleiben

Dieser Film war die Rettung! Ein Wachrütteln ob des müden Programms, eine Erschütterung, weil genau diese Art von Kino das noch kann, und die erlösende Erinnerung daran, daß Festivals an sich dafür gedacht sind, kaum weniger als das Beste aus dem aktuellen Filmgeschehen zu zeigen. Und EINE FANTASTISCHE FRAU war schlicht das Beste, was die zurückliegende Berlinale zu bieten hatte. Und nicht, weil 2017 ein so lausiger Jahrgang war, Sebastián Lelos berauschender Film hätte selbst in einer erstklassigen Auswahl alles überstrahlt. Aber: Wenn die Filmkritik mal wieder nicht sofort versteht, nicht eindeutig zuordnen kann, dann werden altbackene Begrifflichkeiten gestreut, und „Frauenfilm“ ist so ein scheußlicher Begriff, der immer wieder im Rahmen des Festivals fiel, wohl auch deshalb, weil verkrampft mit den schwachen „Männerfilmen“ vor allem im Wettbewerb abgerechnet werden sollte.

Meinethalben ist EINE FANTASTISCHE FRAU thematisch ein „Frauenfilm“, noch mehr dürfte er jedoch einer der schönsten von Frauen erzählenden Filme der Kinohistorie sein, die – was ebenfalls völlig egal ist – aus Männerhand und -kopf und -herzen entstanden. Es ist doch vielmehr begeisternd, wie dieser Film nachwirkt, einen kaum noch losläßt, vielleicht für immer unvergeßlich bleibt – ja, diese Kraft hat er! Und das liegt vor allem an Daniela Vega. Sie spielt die Titelfigur Marina, sie atmet, sie lebt sie! Parallelen zum eigenen Leben waren sicher hilfreich beim Eintauchen in eine vom Schicksal geprüfte und von den Reaktionen der Familie ihres Liebhabers Orlando nach dessen Ableben schwer enttäuschte Frau, die vor einigen Jahren rein äußerlich noch ein Mann war. Aura kann man nicht erlernen, die hat man, und Vega eben davon eine Menge. Dieser endtraurige Mund, der kämpferische Schritt, diese Eloquenz und Eleganz, wenn ihre Marina neben dem Job als Kellnerin Barlieder und Arien singt – das ist eine Offenbarung im Kino!

Marinas Leben versteht sich als Kampf, als Verteidigung, als gesellschaftlicher Affront, und trotzdem hat sie keines dieser zynisch-verbitterten Gesichter, die Menschen heutzutage gern spazieren tragen, das Gegenteil ist der Fall. Ihr zuzuschauen, wie würdevoll sie die Erniedrigungen von Orlandos wegen ihr verlassener Frau, der Familie und der Polizei erträgt, ist reinste Erbauung, und sie wird immer die Einzige bleiben, die aufrichtig Anstand und gebührenden Abstand wahrt. Dabei wird sie beleidigt, attackiert, als minderwertig betrachtet, Marina aber ist immer bei sich, sie bleibt auch dann noch Mensch, wenn andere längst jede Beherrschung verlieren.

Lelio erzählt zu Beginn in Almodóvarscher Manier, gespickt mit schrilleren Momenten, die den Wahnsinn, der gerade in Marinas Leben geschieht, bestens illustrieren, dann aber emanzipiert Lelio sich und seine Heldin zunehmend, entflicht eine in den Bildern beeindruckende, anrührende und dabei frei von jeder Sentimentalität gehaltene Geschichte über Vorurteile, familiäre Gehässigkeit, einen verstaubten, zu Gewalt führenden Machismo und Marinas unbeirrbaren Kampf um ihr Recht auf Trauer. Das vor allem gilt verteidigt, und dies tut Marina ganz in ihrer Art: aggressionsfrei und effektiv. Die Masken der Anderen fallen zeitig genug, und dadurch, daß sich ihre Widersacher nicht entblöden, einen starken, kreativen und liebenswerten Menschen wie Marina als kriminell, abartig und widernatürlich zu behandeln, spiegelt sich das Verkommene einer intoleranten Gesellschaft, die sich ihrer Bestimmung selbst beraubt. Denn am Ende werden nur Wenige aufrecht durchs Leben gehen können. Marina in jedem Fall.

Originaltitel: UNA MUJER FANTASTICA

Chile/D 2017, 104 min
FSK 12
Verleih: Piffl

Genre: Drama

Darsteller: Daniela Vega, Francisco Reyes

Regie: Sebastián Lelio

Kinostart: 07.09.17

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.