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Große Erwartungen

... werden ziemlich enttäuscht

Adaptierte Weltliteratur birgt einen Vorteil: Auf ausufernde Inhalte kann der Rezensent verzichten. Daher hinsichtlich Dickens’ Roman nur die Erinnerung, daß es um den Waisenjungen Pip geht, welcher gesellschaftlich aufsteigt, eine lieblos-schöne Frau umwirbt und letztlich ein Geheimnis lüftet. Gut. Und wie schlägt sich jetzt die x-te Verfilmung anno 2012?

Mäßig. Klar kann man sich an der peniblen Ausstattung trunken sehen, in en détail genähten Kostümen versinken, die elegante Kameraführung lobend erwähnen. Solche optischen Reize stemmen indes kaum zwei Stunden, weswegen es genrekonform zuerst den Schauspielern überlassen bleibt, der handlungstechnischen Gediegenheit pralles Leben einzuhauchen. Dieser Atem weht allerdings zu kraftlos.

Beschaut man kritisch Hauptdarsteller Jeremy Irvine, packt einen schon bald eiskalt von hinten das Gefühl, der als heißer Newcomer Gehandelte wäre rein aus Attraktivitätsaspekt gecastet worden – so wie der Bursche mit halb offenem Mund schnappatmet, sofern er nicht gerade sein flottes Schafsgrinsen aufsetzt. Irvines prominente Kollegen tragen jedoch ebenfalls wenig zur mimischen Freude bei. Grundsätzlich fähiges Personal, darunter Ralph Fiennes oder Sally Hawkins, tritt auf, intoniert (zumindest im O-Ton) steif ein paar brav gelernte Dialogzeilen runter und geht durch die nächste Tür wieder ab. Allein Helena Bonham Carter verfällt nirgends der Klassiker-Ehrfurchtsstarre, mimt im Vergleich fast rotzig drauflos und reißt nicht bloß die Geschichte an sich, sondern auch das Publikum aus häufig drohendem Halbschlaf.

Künstlerisch wertvolle Langeweile demnach, wobei Regisseur Mike Newell gleichsam arg geringe Anstrengungen unternimmt, um reiner Theater-Ablichtung zu entgehen. Vielmehr scheint der Brite nach unterschiedlichsten Arbeiten wie VIER HOCHZEITEN UND EIN TODESFALL oder einem HARRY POTTER-Teil eher heimlich zu planen, seinem weitläufigen Œuvre neue Richtungen hinzuzufügen. Konkret gerät eine Naturdoku in Verdacht, ausgehend davon, daß Newell sich hier ornithologisch orientiert gibt. Angesichts des schwindenden Interesses am Geschehen plus abschweifender Filmsicht fiel namentlich auf, daß immer wieder Vögel aller Art eingeblendet werden – als Schwarm, als Zug oder nur so. Schon schön, irgendwie. Worin aber nun der Sinn dessen liegt? Tja, eventuell kennt Dickens’ Wälzer die Antwort ...

Originaltitel: GREAT EXPECTATIONS

GB/USA 2012, 128 min
FSK 12
Verleih: Senator

Genre: Literaturverfilmung, Drama, Liebe

Darsteller: Jeremy Irvine, Helena Bonham Carter, Ralph Fiennes, Robbie Coltrane, Sally Hawkins

Regie: Mike Newell

Kinostart: 13.12.12

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...