D/F 2023, 169 min
FSK 12
Verleih: Piffl

Genre: Dokumentation, Historie

Regie: Dominik Graf

Kinostart: 24.08.23

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Jeder schreibt für sich allein

Dichten, denken, schmutzig werden

Hatte der deutsche Geist zwischen 1933 und 1945 vorübergehend den Verstand verloren? Die Gerichtspsychiater der Alliierten unterzogen die NS-Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg allerhand Intelligenz- und Persönlichkeitstests und fanden … gar kein einheitliches Störungsmuster! Was aber ist von den literarischen Großköpfen zu halten, die nach Hitlers Machtergreifung in Deutschland weiterschrieben? Wer bei Sinnen war, wer halbwegs anständig dichten und denken wollte – mußte der diesen an die Spitze gewählten Massenmördern nicht den Dienst verweigert haben und ins Exil gegangen sein?

Gottfried Benn, Erich Kästner, Hans Fallada, Jochen Klepper, Ina Seidel, Will Vesper und andere blieben. In seinem 2020 erschienenen Sachbuch „Jeder schreibt für sich allein“ widmete sich Anatol Regnier jenen Sitzenbleibern der zwar nicht tausend, aber immerhin zwölf Jahre dauernden NS-Literaturgeschichte. Er kam zu dem Schluß, daß sie in der Zusammenschau nicht auf einen Nenner zu bringen sind. Dominik Graf nahm Regniers Recherchen zum Ausgangspunkt, um an den gelebten Widersprüchen dieser Literaten filmisch mit- und weiterzudenken – und an dem vernichtenden Urteil, das der Exilant und Nobelpreisträger Thomas Mann 1945 über ihre mit Regime-Genehmigung veröffentlichten Werke fällte: Der „Geruch von Blut und Schande“ hafte an ihnen.

Ein weiteres Mal bedient sich Graf der Form des dokumentarischen Essays – und zeigt erneut, wie wirkmächtig er, der Spielfilmspezialist, sie zu handhaben weiß. Rorschach-Faltbilder, überblendete Faksimiles, Belegtes, Phantasiertes, Inszeniertes, auf Schwarz montierte Sequenzen, in denen seine Interviewten sprechen. Zum Beispiel über den schalen Beigeschmack des Begriffs „innere Emigration.“ Gemeinsam mit Regnier durchstöbert Graf Nachlässe und stößt schließlich auf die Handschrift der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin, die in den 60er-Jahren im Hause Vesper verkehrte. Er betrachtet das Schild an der Erich-Kästner-Straße in München-Schwabing, das 2021 ins Gerede kam. Und er filmt Schuhe, immer wieder vergessene, vielleicht beim Wegrennen verlorene Schuhe …

Ha, die Zeichen der Zeit erkennen?! Um welchen Anfängen zu wehren?! Oder ist er längst da, der neue Totalitarismus?! Graf fragt rhetorisch, nicht naiv. Damit riskiert er etwas, nämlich, daß ihn die falschen Leute genau richtig verstehen.

[ Sylvia Görke ]