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Jesus, du weißt

Intime Beichten aus dem Jammertal Leben

Wer wissen will, wie nahe das Medium Film dem Leben kommen kann, der Bedürftigkeit und Schwachheit der Menschen, aber auch ihrem Mut zu überleben, findet vielleicht eine Antwort bei Ulrich Seidl. Der Österreicher, der spätestens seit HUNDSTAGE und TIERISCHE LIEBE als kompromißloser Grenzgänger und Tabubrecher gilt, wirft immer wieder intime und durchaus böse Blicke auf die Gesellschaft. Daß es dabei nicht bloß um die Lust an der Entlarvung geht, wird in seinem neuen Dokumentarfilm spürbar. Dessen zentrales Thema ist nicht etwa eine Demaskierung des Katholizismus, vielmehr zeichnet der Film sechs eindringliche, oft schmerzhafte Porträts von Gläubigen in einer orientierungslosen Zeit.

Natürlich ist er auch doppelbödig. Gleich zu Beginn beten Protagonisten für Seidls Film, ein an sich unerhörter Vorgang. Und unerhört, in doppeltem Sinne, geht es weiter: Gläubige sprechen in die Kamera ihre Gebete im offenen Kirchenschiff. Die Kamera setzt sich an Jesus’ Stelle. Sie bewegt sich nicht. Sie zeigt nur die Gesichter und Blicke der Betenden, und wir verfolgen ihr ganz persönliches Zwiegespräch mit Jesus. Konfrontiert wird dieses lediglich mit Aufnahmen von Jesusstatuen, kurzen wortlosen Ausschnitten aus dem Leben der Porträtierten und einigen Choraleinlagen vor dem Altar.

Das Konzept ist einfach, sehr direkt und wirkungsvoll. Die Flucht zu Jesus, wenn man es denn so nennen darf, bewegt sich hier oft am Rande des Grotesken. Eine Frau klagt über die Distanz zu ihrem muslimischen Mann und über die entsetzlichen Talkshows im Fernsehen, welche die Menschen voneinander trennen, ein Junge zweifelt an seinem Glauben und leidet an erotischen Phantasien, eine ältere Dame bespricht mit Jesus ihren Racheplan an ihrem Lebensgefährten und bekennt schließlich, mit dessen Ausführung eine Sünde begangen zu haben.

Kleine Geschichten mit wiederum unerhörten Enthüllungen. Doch Lachen will nicht so richtig aufkommen, dazu ist es zu bitter, und man fühlt mit den Menschen. In ihrer Einsamkeit und Ratlosigkeit wirken sie zerbrechlich und vertraut. Ihre rührenden Gebete spiegeln eben mehr als eine zum Teil zwanghafte Religiosität.

Österreich 2004, 88 min
FSK 0
Verleih: Ventura

Genre: Dokumentation

Regie: Ulrich Seidl

Kinostart: 25.08.05

[ Lars Meyer ] Im Zweifelsfall mag Lars lieber alte Filme. Seine persönlichen Klassiker: Filme von Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Woody Allen, Billy Wilder, Buster Keaton, Sergio Leone und diverse Western. Und zu den „Neuen“ gehören Filme von Kim Ki-Duk, Paul Thomas Anderson, Laurent Cantet, Ulrich Seidl, überhaupt Österreichisches und Skandinavisches, außerdem Dokfilme, die mit Bildern arbeiten statt mit Kommentaren. Filme zwischen den Genres. Und ganz viel mehr ...