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Neben den Gleisen

Menschen im Imbiß

Traudi Bartels ist tot. Man zündet ihr auf dem Tresen ein Teelicht an, dort, wo sie ihren Tee abgestellt hat. Oder anderes. Micha hat Traudi gekannt. „Es sind schon einige gestorben“, sagt er traurig. Und freut sich, daß er selbst noch jeden Tag die Sonne sieht, sein Bierchen trinkt, Zigaretten raucht und Tabletten nimmt. Gegen Einsamkeit sind keine dabei.

NEBEN DEN GLEISEN fährt direkt in die Parallelgesellschaft der Bundesrepublik hinein. Dorthin also, wo die meisten, die sich dafür jetzt ins Kino aufmachen werden, im realen Leben keinen Zugang haben, haben müssen oder wollen, aber vorgeben, genauestens darüber Bescheid zu wissen. Dieter Schumanns nüchterner Dokumentarfilm zeigt diesen Mikrokosmos in Mecklenburg-Vorpommern, in Boizenburg, im Imbiß von Bernd Fischer. Der betreibt ihn seit einem Vierteljahrhundert unweit des Bahnhofs, wo vieles vorbeirauscht und anderes hält. Wo der Fahrgast fix nach Hamburg kommt und sich Bürger so fühlen, als gehörten sie in Wahrheit sowieso dorthin.

Von 5 bis 22 Uhr ist geöffnet. Stammgäste sind Schichtler, die aus der Bonbonfabrik kommen, Taxifahrer, die ins benachbarte Horst ins Flüchtlingsheim fahren. Als NEBEN DEN GLEISEN gedreht wurde, schwappte gerade die „Welle“ ins Land und auch nach Boizenburg. Die Kurzzeit-Porträts der Einheimischen wurden durch eine Facette erweitert. Ohne sie hätte Schumanns Film jedoch auch seinen Reiz. Jetzt hat er durch Flüchtende eine tagesaktuelle Note. Zum Glück wird sie nicht ausgeschlachtet.

Denn es geht um jene Menschen, für die Bernds Bude eine Insel ist. Arbeitslose sowieso, Rentner, ein polnischer Gastarbeiter, der bis zum Abwinken bleiben mag. Ein herrlich verliebter Mann „von drüben und unten“, der genau „hier oben“ sein will. Die reifere Dame mit vernetztem Busen, die etwas Reeperbahn hierherzaubert. Für die junge Mutti, der die Babysprache tagein, tagaus nicht reicht, und für ein paar taumelnde Jugendliche ist das Büdchen ein Angelpunkt zum Drehen. Auch um sich selbst.

Natürlich ist die Kamera für diese Menschen eine Heraus- und Aufforderung. Natürlich wird politisiert und geschimpft. Natürlich sind diese Steilvorlagen lustig, haarsträubend und traurig zugleich. Dem erfahrenen Dok-Regisseur Dieter Schumann, von dem schon 1988 der DDR-Rockreport FLÜSTERN & SCHREIEN stammte, geht es um Dialog, nicht um handwerkliche Ambition. Das ist angemessen.

D 2016, 85 min
FSK 12
Verleih: Deutschfilm

Genre: Dokumentation

Regie: Dieter Schumann

Kinostart: 06.04.17

[ Andreas Körner ]