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Novemberkind

Von der Zerrissenheit zwischen den Systemen - eine universale Familiengeschichte, mitreißend und ohne künstliches Pathos

Sie wirkt fragil und fast wie ein Teenager, wenn sie neben einem steht - Anna Maria Mühe. Auch bekommt man keine gewollt eloquenten Dinge zu hören, fragt man sie nach ihrer Doppelrolle in Christian Schwochows Debütfilm. Eigentlich nur das oft Gehörte: wichtige Erfahrung, spannende Arbeit, großartiges Team, tolle Herausforderung, das mit der doppelten Besetzung ...

Und nein, die Ost-West-Problematik habe sie persönlich nicht sonderlich tangiert, schließlich sei sie erst vier Jahre alt gewesen, als die Mauer fiel. Und trotzdem hat Schwochow ein ganz sicheres Gespür für seine Figuren bewiesen, als er mit der 23jährigen Schauspielerin im Hinterkopf die Rollen der Inga und ihrer Mutter Anne schrieb. Niemand hätte die lebenslustig zupackende Bibliothekarin aus dem kleinen Örtchen Malchow in Mecklenburg besser verkörpern können, genauso wie die in Konflikt geratene, verliebte junge Mutter oder die geerdete Frau, der plötzlich jeglicher Boden ihrer Identität entzogen wird.

Dieser Film lebt durch und mit einer Leinwand einnehmenden, vielschichtigen Anna Maria Mühe. Und durch die Liebe und Sorgfalt, die der junge Regisseur in gemeinsamer Arbeit mit seiner Mutter Heide Schwochow, die schon vor der Wende als Regisseurin und Autorin beim Rundfunk der DDR tätig war, in das Buch gesteckt hat. Anders als andere Debütanten hat Christian Schwochow sich nicht auf präzise ausgeleuchtete Bilder verlassen, sondern vor allem auf seine Geschichte.

Inga hatte nie daran gezweifelt, daß ihre Großeltern die Wahrheit erzählten. Deren Version der Geschichte: Ingas Mutter Anne sei bei einem Badeunfall auf Hiddensee ertrunken, sie habe nie preisgegeben, wer ihr Vater sei. Robert, eindringlich gespielt von Ulrich Matthes, Literaturprofessor aus Konstanz, weiß es besser, hat er doch Anne persönlich in einem seiner Seminare kennengelernt. Die tragische Fluchtgeschichte der jungen Frau vergaß er nie, und nach einem Herzinfarkt beschließt er, sich auf die Suche nach Inga zu begeben. Dabei hofft er vor allem auf authentischen Stoff für seinen langersehnten ersten Roman. Daß er mit seiner egoistischen Art, Schicksal zu spielen, die vermeintlich heile Welt einer Familie zerstört, nimmt er in Kauf. Inga findet mit seiner Hilfe heraus, daß das ganze Dorf, sogar ihre beste Freundin Steffi wußte, daß ihre Mutter mit einem russischen Dissidenten in den Westen geflohen war. Doch warum hatte ihre Mutter sie zurückgelassen?

Die Suche nach den wahren Hintergründen für Annes Flucht inszeniert Christian Schwochow aufwühlend und mitreißend, jedoch ohne das schon so oft gesehene künstliche Pathos. Die Handlung bleibt bei Inga, ihren Empfindungen, steigert sich nicht in einen halbherzigen Krimi hinein. Auch werden keine standardisierten "Achtung-jetzt-kommt-eine-Ostzeitenrückblende"-Bilder bedient - keine Stasi, keine Blauhemden, kein stilisiertes Grau in Grau. Es geht Schwochow ebenfalls nicht darum, ein simples Täter-Opfer-Profil zu zeichnen. Er will eine universale Familiengeschichte erzählen, die auf Lügen aufgebaut wurde.

Die Reife und Dichte, mit der er dies tut, sind jedoch kein Zufall, liegen in seinen eigenen biografischen Wurzeln. 1989 saß er als Elfjähriger selbst auf gepackten Koffern zur Ausreise bereit, und die Familie packte sie auch nicht wieder aus, als der 9. November kam. Schwochows zogen in den Westen Deutschlands. Seither zieht sich die Zerrissenheit, zwischen zwei Systemen aufgewachsen zu sein, durch Schwochows Leben. Immer wird er überall nur ein "Halber" bleiben - egal ob Ostler oder Westler. Wenn auf der Suche nach den eigenen Wurzeln jedoch solche "Ostfilme" herauskommen, dann können gerne noch weitere folgen.

D 2008, 95 min
FSK 12
Verleih: Schwarzweiß

Genre: Drama, Polit

Darsteller: Anna Maria Mühe, Ulrich Matthes, Christine Schorn, Hermann Beyer

Regie: Christian Schwochow

Kinostart: 20.11.08

[ Susanne Schulz ]