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Palindrome

Von hinten wie von vorne - krank, böse und neurotisch

Die Filme von Todd Solondz bedingungslos lieben zu wollen, hieße wohl, die Grenze zum Masochismus zu überschreiten. Mindestens aber kostet es richtig Arbeit - am Schamgefühl, an der Leidensfähigkeit im Angesicht des Absurden, und manchmal sogar an der Geduld. Sie zeigen die innere Verwandtschaft von Hysterie und Betäubung, von Onanie und Ohnmacht, von Fast Food und seelischer Unterernährung. Sie sind seltsame Orchideen, die oft nur auf Festivals blühen dürfen. Und sie verweigern, was im Kino zum guten Ton gehört: Figuren, in denen man sich verdoppelt sieht, die einem, wie es so schön heißt, aus dem Herzen sprechen.

Wer mag sich im pädophilen Vergewaltiger aus HAPPINESS (1998) wiedererkennen, auch wenn der ein feiner Daddy ist? Wer sähe sich schon gern in dem Haßliebesakt zwischen dem schwarzen Lehrer und seiner weißen Schülerin aus STORYTELLING (2001), diesem Tiefschlag gegen bigottes Toleranzlertum? Nicht einmal Dawn, das Mädchen aus WILLKOMMEN IM TOLLHAUS (1995), konnte wirklich zum Seelenzwilling aller getriezten Kindheitsversager werden, weil sie neben Brillenschlange und Pferdegesicht auch oft genug einfach unerträglich war. Diesem Geschöpf aus Phantasie und amerikanischer Mittelstandshölle ist nun PALINDROME "in liebender Erinnerung" gewidmet. Solondz verkündet Dawns Tod und verabschiedet sich mit einer Trauerfeier von seiner alten Filmfigur. Die Nachfolgerin, Aviva, erweist sich jedoch als vielleicht härteste Provokation für die Liebesfähigkeit des Publikums.

Aviva ist nämlich nicht einfach ein kindlicher Vorstadt-Teenager, der vom Cousin geschwängert und von den Eltern zur Abtreibung gezwungen wird. Sie ist nicht nur die minderjährige Naive, deren Mutterträume beim Eingriff in Dr. Fleischers (!) Klinik für immer beendet werden, die sich von einem Trucker im schäbigen Hotelzimmer mit der Frage penetrieren läßt, ob man auch von hinten schwanger werden kann. Das "Mehr" bei Todd Solondz ist ein nahezu infantiler Kniff, der aus dem Teenager-Drama einen Querschläger macht, vor dem mancher zurecht in Deckung gehen wird.

Von insgesamt acht Darstellern verkörpert, die sich in Haar- und Hautfarbe, im Alter und sogar im Geschlecht unterscheiden, wird Aviva, die sich als Palindrom doch aus jeder Leserichtung gleichbleibt, zum hybriden Wechselbalg. Die immergleiche Wandelbare irrt durch bizarrer werdende Episoden, verbunden mit Zwischentafeln in hellem Blau und zartem Rosa. Die irre Traum-, genauer Alptraum-Struktur, in der ein Gesicht ins andere übergeht, führt zwischenzeitlich ins Märchenland. Aviva, jetzt schwarze, übergewichtige Riesin im Kinderkleid, aufgenommen im Haus von Mama Sunshine, wo es gesungene und getanzte "O Lord"-Einlagen gibt, wo versehrte Kinder mit Gebäck namens "Jesus’ Tears" verwöhnt werden. Um die Ecke ein Müllplatz für abgetriebene Föten. Im Hinterzimmer organisiert Papa Sunshine einen gerechten Mord.

Todd Solondz würgt in diesem filmkünstlerischen Brechdurchfall eine ganze Vorstadtkindheit samt Kirchenvormittagen auf die Leinwand - in Kinderfarben aus Kinderängsten, zum teil kalkuliert dilettantisch wie eine bösartige Parodie auf jene Un-Sinn-Bilder, in denen Psychiater Geschichten von Störungen und Verstörungen lesen können. Und er berührt damit konsequenter als je zuvor ein Humorzentrum, für daß man sich glatt schämen müßte.

Originaltitel: PALINDROMES

USA 2004, 100 min
Verleih: Celluloid Dreams

Genre: Drama, Schräg

Darsteller: Ellen Barkin, Jennifer Jason Leigh, Richard Masur, Stephen Adly-Guirgis, Matthew Faber

Stab:
Regie: Todd Solondz
Drehbuch: Todd Solondz

Kinostart: 14.04.05

[ Sylvia Görke ]