D 2023, 103 min
FSK 12
Verleih: Piffl

Genre: Drama

Darsteller: Thomas Schubert, Paula Beer, Langston Uibel, Enno Trebs, Matthias Brandt

Regie: Christian Petzold

Kinostart: 20.04.23

6 Bewertungen

Roter Himmel

Mecklenburg in Flammen oder: Wie ein Filmsommer zu Klima kommt

„Irgendwas stimmt nicht.“ Ein Satz wie ein Orakelspruch, beiläufig hingesagt wie ein „Ach so“ oder „Na ja.“ Leon und Felix, zwei Freunde aus Berlin, beide ein paar mehr oder weniger Lebensjahre kurz vor der 30, treten ihren Sommerurlaub an der Ostsee an. Aber was heißt hier Freunde? Was heißt hier Sommer und was Urlaub? Und wie, zur Hölle, soll man irgend etwas antreten, wenn die Mistkarre in einem dieser furztrockenen Mecklenburgischen Wäldchen den Geist aufgibt? Leon ist entnervt und Felix lösungsorientiert – eine Temperamentmischung wie aus dem Lexikon der entzündlichen Beziehungskonstellationen. Ach so, es gibt eine Abkürzung zum Ferienhaus, die man prima zu Fuß bewältigen kann. Na ja, das wird wohl auch mit dem scheiß Gepäck zu schaffen sein.

Christian Petzolds Sommerfilm hat eine Starthemmung von ästhetischer Qualität. Sie gehört zu jenen eigensinnigen Moves zwischen Alltag und Abgrund, die seine Arbeiten aus dem süßen Brei des zeitgenössischen deutschen Autorenkinos herausheben. Seine Geschichten werfen ihre Bedeutungen nicht zügig ab und sammeln dann über den Plot verstreute Warums und Weshalbs ein. Nein, sie laden sich beim Zusehen auf – mit Text- und Bildspuren, die weit hinaus in die Kino- und Literaturhistorie führen. Oder in einen Petzoldschen Vorgängerfilm. Oder in eine Szene, die gerade eben auf leisen Sohlen an einem vorbeigehuscht ist. So wie Leon und Felix dem Hubschrauberlärm über diesem dürren Wäldchen nicht die nötige Aufmerksamkeit schenken. Sonst wären sie vielleicht umgekehrt – um den Preis, das Schicksal zu verpassen. Doch es bleibt geduldig und wartet …

Im endlich erreichten idyllisch-unaufgeräumten Ferienhäuschen wird erzählt, daß Leon seinen zweiten Roman dringend fertigstellen muß – der Verleger ist schon auf dem Weg. Wir erfahren, daß Felix an einer Fotomappe werkeln sollte – wenn ihn nur der Bademeister (Verzeihung: Rettungsschwimmer) nicht immerzu ablenken würde. Und wir wissen, ziemlich sicher, daß hier auch eine Nadja wohnt – obwohl man sie lange nicht zu Gesicht bekommt. Denn zunächst sind nur ihre nächtlichen Lustschreie aus dem Nachbarzimmer zu hören – und rauben dem sensiblen Jungschriftsteller den Schlaf. Die Annahme, sie sei Russin, erweist sich als Irrtum. Was Nadja sonst noch umtreibt? Außer Eis verkaufen im nächsten Ort? Außer schwüle Erotik und ein lauwarmes Gulasch? Leon fragt nicht. Er hat mit sich zu tun.

Die Dramatis Personae bringen sich in Stellung. Sie plaudern im lauschigen Garten und am brutheißen Strand. Sie blicken von ihren Stühlen und Sitzdecken aneinander empor und aufeinander herab: die zupackende Werktätige Nadja, der apathische Intellektuelle Leon, der leichtherzige Fotograf, der durchtrainierte Bademeister (Verzeihung: Rettungsschwimmer) und der buchkundige Verleger, der wohl einfach zu müde ist, um Leons Manuskript professionell zu würdigen. Sie beneiden und mißtrauen, verehren und verkennen sich, immer aus den falschen Gründen. Gelegentlich schauen sie nach oben, zum giftigen Widerschein des Feuers. Manchmal spielt ihnen Petzold dazu sogar Musik.

Aus den Inspirationen für diesen Filmsommer macht Christian Petzold kein Geheimnis. Èric Rohmer, der Atmosphärenmaler. Claude Sautet, der Verschwiegene. Jean-Luc Godard und dessen VERACHTUNG. Die großen Kino-Franzosen eben, aus denen er wie ein Gelehrter zitieren kann. Genauso sicher bewegt er sich durch die Literatur. Nach der wunderbar freigeistigen Anna-Seghers-Adaption TRANSIT, nach der verzaubernden Märchenaneignung UNDINE legt er in ROTER HIMMEL Belesenheitsschnipsel zu Heinrich Heine, Heinrich Kleist und Uwe Johnson, zur alten DDR und zur archaischen Zerstörungskraft, mit der sich Natur gegen Kultur aufzulehnen vermag.

Und er macht sich lustig. Nicht über jene, die weder mit einem Erdbeben in Chile, noch mit einem Achim oder gar Pompeji etwas anzufangen wissen. Sondern er lacht stattdessen, ungewöhnlich laut und höhnisch, über alle, die sich über alles erheben. Wer sich ertappt fühlt, hat diese Komödie der Petzoldschen Art verdient. Gratulation!

[ Sylvia Görke ]