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Tage, die bleiben

Berührendes aus der humanen Schattenwelt

Andrea Dewenter hatte einen schönen Abend und fährt nach Hause. Zwischendurch läßt sie, traurig lächelnd, in aller Ruhe und beherrscht, ihren Mann Christian bei seiner Geliebten raus. „Morgen“, antwortet Andrea auf Christians Bitte, miteinander zu reden. Sie biegt ab. Grelle Lichter. Lärm. Zersplitterndes Glas. Eine Kollision. „Morgen“ gibt es nicht mehr. Andrea hat den Laster übersehen und stirbt beim Unfall.

Nun fokussiert Jungregisseurin Pia Strietmann weder auf die Zeit davor noch den langfristigen Verarbeitungsprozeß; ihr Interesse gilt dieser schwebenden Zwischenzeit, dem sich vom Todesfall bis zur Beerdigung erstreckenden emotionalen Niemandsland. Ohne daß bereits Begreifen eingesetzt hätte, müssen einerseits organisatorische Dinge erledigt werden – Aufbahrung oder nicht? Kleid oder einfaches Leichengewand? Welcher Sarg? Wen will man informieren? Was hätte wohl die Verstorbene selbst präferiert? Und andererseits, ungleich wichtiger: Was darf, soll, kann man fühlen, wie aufeinander reagieren?

Die von Strietmann in den Handlungsmittelpunkt gerückte, ziemlich zerrüttete Familie sorgt zusätzlich für Reibungspotential. Theoretisch, in weniger fähigen Händen, wären der untreue Vater, ein entfremdeter und schon vor Jahren geflohener Sohn, die pubertätsgeplagte Tochter Elaine sowie der Außenseiter von nebenan dabei Figuren wie Abziehbilder, aber Strietmann umgeht Klischees, verzichtet auf Pathos und – vielleicht am wichtigsten – Erklärungen. Statt in die Länge gezogener Dialoge inszeniert sie klar bebilderte Szenen, trifft seelische Kerne und legt so Wunden frei. Zum Beispiel, wenn Christian Andreas Mailboxansage abhört, auflegt und erneut wählt. Mehrmals hintereinander.

Wie wenig Strietmann hier nur aus der Distanz ein Thema abarbeitet, zeigt sie jedoch ebenfalls auf anderer Ebene. Es gehören Mut und Größe dazu, solch ein Sujet mit komischen Momenten oder eigentlich schon absurden Augenblicken anzureichern – fast scheint eigene Erfahrung durchzuschimmern, als ein Nachbar Elaine rät: „Du mußt jetzt stark sein, Kind. Keine Schwäche zeigen, ja?!“

Abschließend sei vollkommen nüchtern darüber informiert, daß Pia Strietmann bereits am nächsten Drehbuch schreibt. Die Chancen, sich nach dessen Metamorphose zum Kinofilm immer noch an ihr hier gesehenes Langdebüt zu erinnern, stehen gut. Wie lange diese Zeit auch dauern mag.

D 2011, 106 min
FSK 12
Verleih: alpha medienkontor

Genre: Drama, Familiensaga

Darsteller: Götz Schubert, Max Riemelt, Mathilde Bundschuh, Lena Stolze, Andreas Schmidt

Stab:
Regie: Pia Strietmann
Drehbuch: Pia Strietmann

Kinostart: 26.01.12

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...