Originaltitel: TITANE

F/Belgien 2021, 108 min
FSK 16
Verleih: Koch Films

Genre: Horror, Thriller, Killer

Darsteller: Agathe Rousselle, Vincent Lindon, Garance Marillier, Laïs Salameh, Dominique Frot

Regie: Julia Ducournau

Kinostart: 07.10.21

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Titane

Schwangere Serienmörderin im Crash mit Cronenberg – eine einzigartige Erfahrung

Julia Ducournaus erst zweiter Film brachte das Cannes-Publikum teilweise zunächst zum Verlassen des Saales und später, als Hauptpreisgewinner, gleich wieder auf die – hier Goldene – Palme. Solche Kletterei kann man uneingeschränkt verstehen oder aber den Wunsch hegen, sich Ducournau (sicherheitshalber ohne provozierend hektische Bewegungen) zu nähern, um Konventionen wegfegenden Mut zu beglückwünschen; mittigere Positionen dürften schwer bis unmöglich einzunehmen sein. Ein geradezu physisches Ereignis wird’s sowieso.

Pure Körperlichkeit stellt auch Tänzerin Alexia zur Schau, regelrecht angeschmachtet von der ruhelosen Kamera, visuell gestreichelt, deutlich begehrt. Einen übergriffigen Verehrer schmettert Alexia unter Einsatz ihrer stets griffbereiten Stricknadel ab, zum wild zuckenden Danse Macabre fließt weißer Schleim aus des Sterbenden Mund, eine letzte metaphorische Ejakulation? Weitere Morde folgen, in Alexias Welt schreit sämtliche Form von engerem Kontakt nach tödlichen Konsequenzen, und zwar offenbar extrem laut, im Kopf der Killerin muß unvorstellbares Gebrüll herrschen. Zwischendrin hat sie Sex mit einem aufgemotzten Cadillac und empfängt … etwas.

Erstaunlich, wie selbstverständlich Ducournau derlei erzählerische Absurdität grandiosem Sounddesign und hohe ästhetische Neigung beweisenden Bildern unterjubelt, derweil Nacktheit sich jene Natürlichkeit zurückerkämpft, welche sie angesichts der modernen Omnipräsenz verlor. Obwohl es vielleicht nicht an oberer Listenposition stand, Vincent Lindon dabei zuzusehen, wie er sich die Muskelbildung ankurbelnden Schweinkram ins Hinterteil spritzt. Er spielt Vincent, Vater eines vor zehn Jahren verschwundenen Jungen, dessen Identität Alexia aus Fluchtgründen annimmt, zukünftig Adrien heißt und verstummt.

Es mag ein Raunen durch den eigenen Schädel gehen, während Handlungsstrang B seinen Fortgang startet, eingeleitet von einem magischen Moment: Adrien und Vincent blicken einander an, zwei Augenpaare auf Schnupperkurs, Unausgesprochenes, still Vereinbartes. Der Vater konfrontiert den einst verlorenen „Sohn“ nie mit Fragen, verteidigt ihn jedoch um jeden Preis. Alexias logischer Schluß hätte Vernichtung geheißen, was denkt Adrien dazu? Ducournaus Antwort entspinnt sich fast quälend langsam, paart Schönheit eines Wach- und Widerhall eines Alptraums. Eigentlich uninteressiert an Geschlechterzuordnungen, trotzdem quasi übers Eck feministisch, weil Adriens erlernte emotionale Weichheit Alexias Stärke schwächt. Gefährlich, so umringt von Männern, die persönliche Erfüllung im Vergleichen dicker Hosen finden.

Da schleicht sich ein Gesicht, nämlich das von Newcomerin Agathe Rousselle, deren Präsenz eine andere Wahl für die Hauptrolle schlichtweg ausschließt, mal eben über die Leinwand ins Langzeitgedächtnis, und neues Fleisch wird geboren, bekanntlich trägt Alexia/Adrien/einfach A. ja ein Kind (einen Kleinwagen?). Nun haben wir ihn endlich, den bislang dumpf gefühlten, jetzt direkten Draht von Ducournau zu David Cronenberg. Und wie des Altmeisters beste Werke – hat irgendwer CRASH gemurmelt?! – sollte man TITANE mehrfach erleben, um zu glauben, die wirklich volle Breitseite gegen Magen und Geist gewuchtet zu kriegen.

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...