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Bibliothèque Pascal

Fantasiebegabter Bilderreigen

Am Anfang steht ein nüchternes Protokoll: Mona will das Sorgerecht für ihre kleine Tochter zurück, die sie bei ihrer Tante gelassen hat, um in England Geld zu verdienen. Was zunächst aussieht wie ein Paradebeispiel für den Naturalismus der neuen rumänischen Welle, entpuppt sich als das komplette Gegenteil. Mona soll für das Protokoll ihre Geschichte erzählen.

Und sie erzählt. Sie erzählt von Jahrmärkten und Gauklern. Von einer Odyssee durch Rumänien im Planwagen. Vom Vater des Kindes, ein gesuchter Krimineller, der unter dem Strand versteckt lag und die Fähigkeit hat, seine Träume für andere sichtbar zu projizieren. Von ihrem Vater „Mackie Messer“, der seine Tochter überredet, ihn zu einer Operation nach Deutschland zu begleiten, auf einer scheinbar endlosen nächtlichen Zugreise voller Verwandlungen. Von der Tante, der Wahrsagerin, die aus Monas Kind auf ungewöhnliche Weise Geld machen will. Und dann: Von Männern, die Mona nach Manchester entführen und in ein Edelbordell verkaufen, namens Bibliothèque Pascal. Ein kühl durchgestyltes Bordell, in dem nur die Crème de la crème verkehrt und sich von den Jongleurskünsten des Besitzers Pascal unterhalten läßt, während in den Kellern in jeder Zelle ein anderes Rollenspiel zelebriert wird: Mona ist dazu verurteilt, Jeanne d'Arc zu sein.

Es ist ein grausames Märchen, das Mona da als Realität präsentiert. Ein Sozialdrama, erzählt in grotesken Traumbildern, getragen von einem fast tranceartigen Klangteppich, das natürlich schnell Gefahr läuft, als Flucht vor dem Thema gedeutet zu werden. Dabei fesselt der Film von Beginn dieser fantastischen Erzählung an mit den ureigensten Mitteln des Kinos. Es ist nicht Mona, es ist die Kamera, die hier erzählt. Sie dokumentiert nicht den Raum, sie verwandelt ihn regelrecht. BIBLIOTHÈQUE PASCAL ist eine endlose Metamorphose, die gerade durch die Kraft der Bilder am Ende doch Bestürzung auslöst über die ernüchternde Realität hinter Monas Abenteuern: Kapitalismus, Emigration, Zwangsprostitution.

Dem ungarischen Regisseur Szabolcs Hajdú ist das allzu Seltene gelungen, eine ganz eigene Bildsprache zu entwickeln. Wer die Wahl hat, sollte aber unbedingt das Original sehen, in dem die verschiedenen Sprachen, rumänisch, ungarisch, deutsch, englisch, sich zu einer Art europäischer Metaerzählung verschränken.

Originaltitel: BIBLIOTHÈQUE PASCAL

Ungarn/D 2010, 111 min
Verleih: Camino

Genre: Drama

Darsteller: Orsolya Török-Illyés, Andi Vasluianu

Regie: Szabolcs Hajdú

Kinostart: 09.06.11

[ Lars Meyer ] Im Zweifelsfall mag Lars lieber alte Filme. Seine persönlichen Klassiker: Filme von Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Woody Allen, Billy Wilder, Buster Keaton, Sergio Leone und diverse Western. Und zu den „Neuen“ gehören Filme von Kim Ki-Duk, Paul Thomas Anderson, Laurent Cantet, Ulrich Seidl, überhaupt Österreichisches und Skandinavisches, außerdem Dokfilme, die mit Bildern arbeiten statt mit Kommentaren. Filme zwischen den Genres. Und ganz viel mehr ...