Originaltitel: DYLDA

Rußland 2019, 130 min
FSK 12
Verleih: Eksystent

Genre: Drama, Schwul-Lesbisch, Liebe

Darsteller: Viktoria Miroshnichenko, Vasilisa Perelygina, Andrey Bykov

Regie: Kantemir Balagov

Kinostart: 22.10.20

1 Bewertung

Bohnenstange

Kollektive Schockstarre

Aus Rußland kommen zur Zeit einige der packendsten Kinofilme. Nicht im Sinne einer actionreichen Handlung, sondern sie packen ihre Zuschauer einfach am Kragen. Immer öfter werden, wenn auch von männlichen Regisseuren, Filme aus weiblicher Perspektive erzählt. Sergei Dvortsevoy zeigte in AYKA das heutige Moskau aus der Sicht einer Arbeitsmigrantin, aus dem Gedränge, der Atemlosigkeit heraus, gewissermaßen zersplittert. Aus einer ähnlichen Bodenperspektive, nämlich der von zwei Kriegsheimkehrerinnen, blickt Kantemir Balagov nun in seinem zweitem Film auf das Leningrad des Jahres 1945.

Über Frauen in der Roten Armee wird nicht oft gesprochen. Iya und Masha sind zwei von ihnen. Iya ist wegen ihrer Schockstarren schon früher zurückgekehrt, pflegt Kriegsversehrte im Krankenhaus und kümmert sich um Mashas Sohn. Unzugänglich, schüchtern, alle Männer an Größe überragend (daher der titelgebende Spitzname), ist sie auch ein sanfter Todesengel. In Absprache mit dem Chefarzt spritzt sie schwer betroffene Invaliden in den Tod. Dieser Akt der Barmherzigkeit ist im Film wohl die zärtlichste Geste. Als ihre Freundin Masha endlich zurückkehrt, ist ihr Sohn tot. Ein Unfall in Iyas Obhut. Doch für Gefühle ist kein Platz. Auch nicht dafür, was sich zwischen den beiden Frauen vielleicht in anderen Zeiten entwickeln könnte. Masha will leben. Sie will, daß Iya für sie ein neues Kind austrägt.

Balagov zeigt Leningrad im Moment einer kollektiven Schockstarre. Die ganze Stadt ist versehrt, traumatisiert, die persönlichen Beziehungen sind gestört, Menschen können zwischen Nähe und Distanz keinen Unterschied mehr machen. Für die Trauerarbeit ist es zu früh. Der Emotionsstau darf sich dafür im Kino entladen.

[ Lars Meyer ] Im Zweifelsfall mag Lars lieber alte Filme. Seine persönlichen Klassiker: Filme von Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Woody Allen, Billy Wilder, Buster Keaton, Sergio Leone und diverse Western. Und zu den „Neuen“ gehören Filme von Kim Ki-Duk, Paul Thomas Anderson, Laurent Cantet, Ulrich Seidl, überhaupt Österreichisches und Skandinavisches, außerdem Dokfilme, die mit Bildern arbeiten statt mit Kommentaren. Filme zwischen den Genres. Und ganz viel mehr ...