Originaltitel: DHEEPAN

F 2015, 109 min
FSK 16
Verleih: Weltkino

Genre: Drama, Thriller, Liebe

Darsteller: Antonythasan Jesuthasan, Kalieaswari Srinivasan, Claudine Vinasithamby, Vincient Rottiers, Faouzi Bensaïdi

Regie: Jacques Audiard

Kinostart: 10.12.15

23 Bewertungen

Dämonen und Wunder

Krieg und Frieden und Krieg – brillantes Kino als Variation in Hoffnung, Enttäuschung und Fremdsein

Danksagungen bei Preisverleihungen sind oft öde Angelegenheiten. Aber die hier sei jetzt doch mal kurz zitiert, weil Regisseur Jacques Audiards Sätze in ihrer Mischung aus ironischem Understatement und Selbstbewußtsein schon etwas anders klingen als gemeinhin: „Ich möchte mich bei Michael Haneke bedanken, daß er dieses Jahr keinen Film gedreht hat. Außerdem möchte ich mich bei meinen Darstellern bedanken, ohne die es weder einen Film noch eine Goldene Palme gäbe. Und diesen Preis von den Coen-Brüdern überreicht zu bekommen, ist einfach unglaublich.“

Dabei war es doch wirklich nur eine Frage der Zeit, bis Audiard, seit Jahren Dauergast in Cannes, der sich mit Arbeiten wie DER WILDE SCHLAG MEINES HERZENS, EIN PROPHET und DER GESCHMACK VON ROST UND KNOCHEN als einer der wichtigsten französischen Regisseure der Gegenwart profilierte, mit der Goldenen Palme dekoriert werden würde. Mit DÄMONEN UND WUNDER war es dieses Jahr nun so weit. Und auch wenn derlei Preise letztlich nur bedingt etwas über die wirkliche Qualität von Filmen aussagen, hat die Jury unter Vorsitz der Coen-Brüder hier absolut richtig entschieden.

In Sri Lanka kämpfte er auf Seiten der Tamil Tigers. Der Bürgerkrieg nahm ihm Frau, Kinder, Kameraden. Nichts und niemand mehr kann Dheepan in diesem Land halten. Ein Mann, allein und am Ende. Ein Verlorener. In einem Flüchtlingslager lernt Dheepan eine Frau und ein 9jähriges Mädchen kennen. Yalini und Illayaal, verloren und allein auch sie. Da Familien leichter die Papiere bekommen, die nötig sind, um von hier, aus diesem Land und seinem Elend, verschwinden zu können, geben die Drei sich als Familie aus und gelangen als solche tatsächlich nach Frankreich. Auch dort gezwungen, das Schauspiel aufrechtzuerhalten, werden sie einquartiert in einem Pariser Vorort, in dem es vor allem bald eins zu begreifen gilt: Wesentlich anders als im Kriegs-Sri-Lanka funktioniert die Welt auch in der Banlieue nicht.

Das soll Europa sein? Die verrotteten Wohnblocks? Der Müll und die Drogen-Gangs in ihrem selbstherrlichen Gebaren? Welches dann bitter erwartungsgemäß auch bald in einem Bandenkrieg münden wird, ob dem Dheepan, der nichts so sehr suchte wie Ruhe, Vergessen und Frieden, noch einmal der Krieger werden muß, der er war und niemals mehr sein wollte.

Was die eine Ebene dieses Films ist. Die eines Thrillers über die sich anbahnende und ausbrechende Raserei, über die Dämonie der Gewalt. Doch ist da noch mehr als das. Audiard nämlich splittet die Perspektiven auf, folgt und beobachtet nicht nur Dheepan, sondern auch Yalini und Illayaal. Der Mann, die Frau, das Mädchen. Drei Variationen in Hoffnung, Enttäuschung, Fremdsein. Die französische Sprache, die kulturellen Codes im Kleinen wie Großen, die diese drei Menschen nicht oder kaum verstehen können. Die Isolation, die ihnen das auferlegt, und die sie ebenso zusammenschweißen wie auseinandersprengen kann.

Dazu das diffizile Changieren zwischen Sein und Schein, das die existentiell notwendige Aufrechterhaltung einer Lüge in Latenz mit sich bringt; die Gefühlsirritation über die aufflackernde Möglichkeit echter Liebe, die vielleicht, allen Umständen zum Trotz, dennoch wachsen könnte – all das verdichtet DÄMONEN UND WUNDER zu einem Film, der bewußt mit Versatzstücken aus Drama, Liebesgeschichte und eben auch Thriller arbeitet. Und zugleich in einer spröde-formalen Zurückhaltung erzählt, die das Emotionspotential der Geschichte in eine fast dokumentarische Klarheit kleidet.

Eine Familie zeigend, die keine ist, und die nichts verfügt hat, als Zufall und bloße Not; und die erspüren und begreifen muß, worin ihre Rettung liegen könnte: im sich Liebenlernen, wider Zufall und Not. Das wäre das Wunder, das die Dämonen austreiben und endlich ein Leben ermöglichen könnte, das diesen Namen verdient.

[ Steffen Georgi ] Steffen mag unangefochten seit frühen Kindertagen amerikanische (also echte) Western, das „reine“ Kino eines Anthony Mann, Howard Hawks und John Ford, dessen THE SEARCHERS nicht nur der schönste Western, sondern für ihn vielleicht der schönste Film überhaupt ist. Steffen meint: Die stete Euphorie, etwa bei Melville, Godard, Antonioni oder Cassavetes, Scorsese, Eastwood, Mallick oder Takeshi Kitano, Johnny To, Hou Hsia Hsien ... konnte die alten staubigen Männer nie wirklich aus dem Sattel hauen.