Originaltitel: LES MISÉRABLES

F 2019, 102 min
FSK 16
Verleih: Wild Bunch

Genre: Drama

Darsteller: Damien Bonnard, Alexis Manenti, Djibril Zonga, Issa Perica, Al-Hassan Ly, Steve Tientcheu, Almamy Kanoute

Regie: Ladj Ly

Kinostart: 23.01.20

7 Bewertungen

Die Wütenden

Laute Tage in Clichy

Plötzlich sind sie wirklich Franzosen, die Blancs, Beurs, Blacks und Flics, die Weißen, Araber, Schwarzen und die Polizisten. Selbst Zigeuner werden integriert. Johlend in den Straßen und Bars, mit der Dreifarbenfahne in der Hand, sturzbesoffen vom Sieg über die Welt – bei der WM 2018. Fußball als kleinster gemeinsamer Nenner funktioniert auch in Frankreich. Es ist keine Überraschung!

DIE WÜTENDEN beginnt mit sprudelnden Originalbildern ausgelassener Feierei, bevor der Film zur trügerischen Ruhe kommt, um dann in den Schlund zu schauen. Regisseur Ladj Ly wird im Pariser Vorort Clichy-Montfermil zunächst zum Sortierer und Beobachter von Zuständen und Charakteren, wechselt stimmig die Perspektiven von bunten Clans der Vorstadtblöcke hin zu den Gangs der Kinder und einem Polizisten-Trio, das sich einredet, die Lage im Griff zu haben, manchmal eben auch im Übergriff. Die drei drehen Runden wie die Drohne von Buzz, einem 12jährigen Jungen, der sich mehr nicht zutraut. Den Mädchen gegenüber nicht und den Jungs kaum. Allein seine Drohne hat er im Griff. Und sie wird zum Zünder.

Die einen nennen es Klischee, die anderen einfach nur Alltag. Es hängt natürlich vom Wohnort ab. Regisseur Ly ist selbst im Banlieue von Montfermeil aufgewachsen und lebt noch dort. Zeitig wurde ihm die Kamera zu dem, das Buzz in seiner Drohne sucht. Über die Jahre hinweg speicherte er akribisch Hunderte Stunden dokumentarische Aufnahmen, Langzeitstudien von Bewohnern und ihren Zu- und Aufständen, Zeugnisse einer komplexen Melange aus Glück und Gewalt unter Ethnien, die nur Franzosen sein wollen, auch wenn grad mal keine WM ist.

Lys Spielfilmdebüt braucht die Legitimierung des Erlebten im Grunde nicht. Es ist wuchtig, präzise und voller Leidenschaft, reich an Empathie für Menschen, und es umkurvt die Fallstricke mit der Energie der Inszenierung und den Darstellern, die teils Laien, teils Professionelle sind. Zwei Stunden Fieber. Man sollte aufpassen, daß man beim Zusehen keines bekommt.

Reaktionsfreudig sei er, Chris, der Verbrechensbekämpfer. In Gwada hat er einen gemäßigten Kollegen an seiner Seite, der sich auskennt in den Schluchten des Viertels. Wo Stéphane als Neuer sich einzuordnen weiß, wird sofort klar. Er kam nach Paris, um seinen Sohn öfters zu sehen. Jetzt sieht er vor allem die Härte, die hinter dieser Versetzung steckt, dort, wo „Koran und Kalaschnikow“ regieren, das „Elendspack“ haust und die „Assizwerge“ sich an falschen Vorbildern orientieren, wo die Staatsgewalt Angst statt Respekt produziert und selbst die Hosen gestrichen voll hat. Was die Methoden betrifft, gilt: legal ist fatal. Good Cop, Bad Cop & Smart Cop als gängiges Muster? Nicht ganz.

Die Plattenbauten haben einen schwarzen Bürgermeister, der keiner ist und sich nur so nennt. Im Imbiß von Salah brät Dönerfleisch am Spieß, gewürzt mit dem Rat der Muslime. Die Zigeuner haben einen Wanderzirkus mit Tieren. Als eines ihrer Löwenbabies verschwindet, laufen Fässer über – mit Haß, Rache, Sühne. Wer will da noch die Kontrolle behalten! Die Polizei etwa? Womit? Mit Gummigeschossen und Gaspatronen? Was, wenn ein Schuß einfach abgeht, mit Issa einen schwarzen Jungen trifft und die Drohne alles gesehen hat?

DIE WÜTENDEN ist ein Nerventrip am Rande der totalen Eskalation entlang. Das exzellent fotografierte und in Ton gesetzte Drama zeigt ein Dominospiel der Verwirrung und Verirrung, eine Gemeinschaft in Not, die von außen gern wegsieht und meint, damit seien „die da“ nicht erst existent. Und eine, die drin ist und glaubt, Deals halten ewig.

An direkten Verweisen auf Victor Hugos 1862 erschienenen Roman ist dieses LES MISÉRABLES, bis auf wenige Details wie den Handlungsort, nicht interessiert. In der deutschen Übersetzung ist er zudem großartig ungenau, um die vielen Verfilmungen des Buchs nicht zu assoziieren. Für Lys Werk ist es Metapher und geschrieben für ein essentielles Zitat: „Es gibt weder Unkraut noch schlechte Menschen. Es gibt bloß schlechte Gärtner.“

[ Andreas Körner ]