Originaltitel: CIEMNO, PRAWIE NOC

Polen 2019, 114 min
FSK 16
Verleih: Camino

Genre: Drama, Thriller

Darsteller: Magdalena Cielecka, Marcin Dorocinski, Modest Rucinski

Regie: Borys Lankosz

Kinostart: 10.10.19

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Dunkel, fast Nacht

Im Strudel der Vergangenheit

Es gibt Orte, die verläßt man physisch, aber innerlich halten sie einen fest, sei es in Form einer Umarmung oder einer Umklammerung: Die Journalistin Alicija Tabor kehrt nach 20 Jahren in ihre schlesische Heimatstadt zurück, um im Fall dreier verschwundener Kinder zu recherchieren. Ihre Eltern und die Schwester sind längst tot, das alte Haus voller Staub, der Garten verwildert. Düsternis und Trostlosigkeit liegen über der grauen Stadt wie eine bleischwere Decke. Die müden Gesichter der Erwachsenen sind roh und erloschen, nur die Kinder zeigen noch Zeichen von Wärme und Leben. Kein Zweifel, an diesem Ort ist es so gut wie immer dunkel, fast Nacht. 

Regisseur Borys Lankosz hat offensichtlich großen Spaß daran, die bedrohliche Atmosphäre in stark stilisierten, detailreichen Bildern auszumalen. Und die sind zweifellos die große Stärke seines Films, der vieles sein will: Gesellschaftsanklage, Vergangenheitsaufarbeitung, Mystery-Thriller. Der Zutaten gibt es reichlich, und sie werden ordentlich durchgemischt. Das liegt auch an der Vorlage, dem gleichnamigen, komplexen Roman der polnischen Schriftstellerin Joana Bator. Für ihn wurde sie 2013 mit dem wichtigen polnischen Literaturpreis „Nike“ geehrt. 

Im Laufe ihrer Recherchen gerät nun die taffe Heldin immer stärker in den Strudel der Vergangenheit, die in zahlreichen Rückblenden aufscheint. Die ganze Geschichte der Bergbaustadt scheint ein einziger Kreislauf aus Mißbrauch und Gewalt, in dem sich individuelle Tragödien mit dem Schrecken der Weltgeschichte vermengen. Die Nazi-Zeit, der Krieg, später die Eroberung durch die Sowjetarmee und die Vertreibung der Deutschen haben so tiefe Spuren in den Seelen der Menschen hinterlassen wie der Bergbau in der Erde. In der Gegenwart setzen sich diese Verletzungen in Form von Lieblosigkeit und Kindesmißbrauch fort.

Dieser schwere Stoff wird zusätzlich mit Mystery-Elementen übergossen. Eine seltsame Perlenkette taucht immer wieder auf, deren Bedeutung schwammig bleibt. Ominöse Katzenfrauen wollen Alicija helfen, wohingegen die sogenannten Katzenfresser symbolhaft für alles Böse stehen. Das ist nicht nur verworren, es konterkariert auch die Analyse einer Kontinuität von Gewalt und zwischenmenschlicher Rohheit über Generationen hinweg. Die ist auch ohne mystisches Geraune sehr unheimlich.

[ Dörthe Gromes ]