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Lemming

Wenn Charlotte Rampling drei Mal klingelt

Dann schlagen Sie ihr besser die Tür vor der Nase zu, bevor sie ihre Sonnenbrille abnimmt und Sie ihrem Mark erschütternden Blick aussetzt. Die berühmten kalt stechenden Augen der Schauspielerin dienen Dominik Moll als perfektes Werkzeug, um eine brodelnde Unruhe in das heile und saubere Leben seiner Protagonisten, einem jungen "Modellpaar", wie die beiden über sich selbst witzeln, zu bringen und seltsame Ereignisse auszulösen. Auf diese subtil spannungsreiche Art von Geschichten versteht sich Moll zur Zeit wie kaum ein anderer. Er kann dabei an seinen eigenen Erfolgsfilm HARRY MEINT ES GUT MIT DIR anknüpfen. Auch dort ging es um ein Paar, das jemand mehr oder weniger Fremdes in sein Leben läßt und sich schließlich den eigenen Begehrlichkeiten und Launen ausgesetzt sieht. War HARRY eine perfide Thriller-Komödie, geht LEMMING einen Schritt weiter oder besser gesagt: tiefer, indem Wünsche und Phantasien der Figuren ans Licht kommen, mit im doppelten Wortsinn unheimlichen Folgen.

Böse Vorahnungen liegen bereits in der Luft, als in der frisch bezogenen Musterwohnung von Alain und Bénédicte Getty ein Nagetier den Abfluß verstopft. Ein Lemming, wie sich bald herausstellt. Wie kommt der nordskandinavische Nager in ein südfranzösisches Abflußrohr? Ein Rätsel, dessen Aufklärung der Haushaltsingenieur Alain, der sein Leben jederzeit in Griff hat, nicht sehr interessiert. Auch als der Abendbesuch der Pollacks, Alains neuem Chef und seiner seltsamen, sonnenbebrillten Frau, ein Desaster wird, bewahren die Gettys die Fassung.

Bei Wein und Salat liefern sich die Pollacks einen bitterbösen, wenn auch routinierten Ehekrieg. Doch das ältere hat dem jüngeren Paar einen Zerrspiegel vorgehalten, der ihm vermeintlich die Zukunft ihrer eigenen Ehe anzeigt. Und wenn Alice Pollack schließlich am lichten Tag, nach einem Versuch, Alain in seinem Büro zu verführen, wieder vor der Tür des trauten Heimes steht und von Bénédicte hereingelassen wird, erinnert die Szene an Schneewittchen, die den Apfel entgegen nimmt. Von nun an wird die Ehe der Gettys unkontrollierbar. Die naive und zuvorkommende Gelassenheit Bénédictes läßt sich dabei auch als Kampfansage verstehen. Charlotte Gainsbourg trifft auf Charlotte Rampling, eine fesselnde Begegnung. Der Funke springt auf die Charaktere über. Trotz gegenseitiger Ablehnung ziehen sich die beiden Frauen in ihren Bann - ein Geheimnis, das wir wiederum aus der Sicht Alains erleben.

Überraschend wechseln die Perpektiven und die Realitätsebenen. Doch selbst, wenn das Unbewußte in die Handlung mit eingreift, bleibt die Geschichte klar und strukturiert, fast wie eine geometrische Formel. Das Personal wird zu einer verhängnisvollen Vierecksgeschichte aufgestellt, während vier Hauptorte den Erzählrahmen abstecken: Das Vorstadthaus der Gettys, das Büro, die Villa der Pollocks und ein symbolisch aufgeladener Gebirgssee. Es sind sterile Orte, atmosphärisch reduziert, so daß kein Nebengeräusch die Fiktion stört.

Fünf Jahre nach HARRY spinnt Moll sein filmisches Universum weiter. Die Mischung aus untergründiger Spannung, feinem trockenem Humor und handwerklicher Cleverness rufen Assoziationen an Hitchcock wach. Geschickt ist unter anderem der Einsatz des Lemming-Motives als scheinbar irreale Begleiterscheinung des Ehelebens. Wer den Vorgänger gesehen hat, kann sich sogar an ein paar direkten Verweisen zwischen beiden Filmen erfreuen. So erinnern etwa die fliegenden Affen an die skurrilen fliegenden Sicherheitskameras, die Alain konstruiert. Und wieder steckt André Dussolier als Hausherr kräftig ein.

Originaltitel: LEMMING

F 2005, 129 min
Verleih: Alamode

Genre: Drama, Thriller, Psycho

Darsteller: Charlotte Rampling, Charlotte Gainsbourg, André Dussollier, Laurent Lucas

Regie: Dominik Moll

Kinostart: 13.07.06

[ Lars Meyer ] Im Zweifelsfall mag Lars lieber alte Filme. Seine persönlichen Klassiker: Filme von Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Woody Allen, Billy Wilder, Buster Keaton, Sergio Leone und diverse Western. Und zu den „Neuen“ gehören Filme von Kim Ki-Duk, Paul Thomas Anderson, Laurent Cantet, Ulrich Seidl, überhaupt Österreichisches und Skandinavisches, außerdem Dokfilme, die mit Bildern arbeiten statt mit Kommentaren. Filme zwischen den Genres. Und ganz viel mehr ...