Noch keine Bewertung

Nobody Knows

Vier Kinder ganz allein - stille Beobachtung einer herzzerreißenden Tragödie

Keiko zieht in eine neue Wohnung. Nachbarn und Vermieter lernen nun ihren ältesten Sohn Akira kennen. Von den anderen drei Kindern, wie Akira unehelich und von verschiedenen Vätern, soll niemand wissen. Sie haben noch nie eine Schule besucht und kennen die Welt vor der Tür nicht, nur die Angst davor, geschürt von ihrer Mutter. Sie selbst verläßt die Wohnung oft, kommt tagelang nicht wieder. Wenn sie dann erscheint, hat sie Geschenke dabei, und die Freude ist groß. In der Zeit ihrer Abwesenheit beaufsichtigt Akira seine Schwestern und den kleinen Bruder. Eines Tages hinterläßt die Mutter etwas Geld und die Notiz, daß sie "bestimmt bald zurückkehrt". Doch sie tut es nicht, und so muß von nun an Akira, selbst noch ein Kind, seine Familie komplett versorgen. Das Geld geht ihm aus, er wendet sich vergeblich an die Väter seiner Geschwister. Die finanzielle Hilfe einer gleichaltrigen Freundin lehnt er schockiert ab, als er erfährt, wie sie das Geld verdient. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die scheinbare Freiheit sich gegen die Kinder wendet.

Die Sympathie für Keiko, die fröhliche Mutter, schwindet schnell. Sie schmuggelt ihre Kinder nahezu symbolisch als Gepäckstücke in die Wohnung und nimmt sich egoistisch auf deren Kosten ihre eigene Freiheit. In ihrem Dilemma spiegelt sich aber auch eine feindselige Gesellschaft, die verbissen an veralteten Familienmodellen festhält und Unterschiede macht zwischen ehelichen und unehelichen Kindern. Die Väter versagen den Kindern ebenfalls ihre Hilfe, als Akira sie aufsucht.

Hirokazu Kore-Eda könnte sie alle mit seiner Geschichte anprangern, sie hat sich so oder so ähnlich tatsächlich zugetragen und erschütterte eine ganze Nation. Doch er klagt nicht an, wählt leisere Töne, die umso stärker nachhallen. Beeindruckend und in Cannes 2004 mit dem Darstellerpreis geehrt, ist das Spiel des jungen Hauptdarstellers Yuya Yagira. Sanft und ohne viele Worte verkörpert er die Hilflosigkeit, die Philosoph Sartre als das Gefühl umschrieb, "ins Leben geworfen zu sein". Vor allem die Szenen, in denen er Altersgenossen in der Schule und beim Spielen beobachtet, sich nach einer einfachen Kindheit sehnt, sind zutiefst ergreifend.

Kinder, die sich selbst überlassen sind - diese Konstellation ließ William Golding in DER HERR DER FLIEGEN als allegorisches Abbild des menschlichen Strebens nach Hierarchie brutal eskalieren, während die gleiche Grundsituation in der Ian McEwan-Verfilmung DER ZEMENTGARTEN zu einem Psychodrama über das Fehlen moralischer Grenzen führt. Kore-Eda schafft es, die philosophische Dimension der Geschichte auszuloten, und gleichzeitig auf einfache Art zu berühren.

Wenn die Kamera den vier Kindern beim Alltag durch ihre zunehmend verwahrlosende Wohnung folgt, hat man nicht das Gefühl, etwas Fiktives zu sehen. Gerade in diesen Szenen profitiert der Film enorm von Kore-Edas Vergangenheit als Dokumentarfilmer. Der Regisseur nimmt sich die Zeit für Beobachtung und Improvisation. Er macht die Zuschauer so zu Mitwissern, zu hilflosen Zeugen einer herzzerreißenden Tragödie.

Originaltitel: DAREMO SHIRANAI

J 2004, 141 min
Verleih: REM

Genre: Drama, Erwachsenwerden

Darsteller: Yuya Yagira, Ayu Kitaura, Hiei Kimura

Regie: Hirokazu Kore-Eda

Kinostart: 12.05.05

[ Roman Klink ]