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Shit Year

Formversessener Essay mit unscharfem Fokus

Man merkt sofort, daß Cam Archer bei seinem zweiten Langspielfilm nicht vorrangig an ein Publikum gedacht hat. Dafür läßt sich ihm sicherlich Charakter bescheinigen, der des eigenwilligen Künstlers ohne schnödes Kalkül vielleicht, des selbstbewußt Unfertigen meinethalben, man kann ihm für SHIT YEAR, diesem essayistischen Formstück, aber neben der Ignoranz einer größeren Zuschauerschar auch ein gewisses Versäumnis vorwerfen, weil Archer – so scheint es – seiner interessanten Geschichte das eigentliche Potential verweigert, sie gar erstickt – in Lichtspielereien, in Soundüberlagerungen, im szenischen Montagepuzzle. Bis irgendwann diese Film gewordene Ambition in ermüdendem Allerlei kulminiert.

Und das bei einer Vorlage, die regelrecht nach Drama brüllt: Eine Diva sagt Adieu. Mit einem letzten Theaterstück, einem finalen Interview. Ein ultimativer Film bleibt aus, weil es die Angebote ihm gleichtun. Colleen West will nur noch Ruhe, allein in ihrer Waldhütte, keine Menschen. Wären da nicht der plötzliche Lärm vor dem Haus, das distanzierte Gespräch mit dem Bruder, der nachhallende Schmerz wegen ihres jugendlichen Verflossenen und diese merkwürdige Nachbarin mit ihren seltsamen Obstpüppchen.

Es hätte ... ist man immer wieder bemüht zu denken, es hätte etwas Großes werden können, auch das Glanzstück einer großen Schauspielerin wie Ellen Barkin, doch dann hätte Cam Archer dies auch wollen müssen. Das tat er offensichtlich nicht, denn – als galt es, nach seinem wunderbaren Erstling WILD TIGERS I HAVE KNOWN eine Kunstidee zu verteidigen – er setzt dem Artifiziellen des Debüts noch einen drauf, was eher angestrengt wirkt, als es überzeugt. Das Phantastische von WILD TIGERS I HAVE KNOWN mußte scheinbar getoppt werden, das visuell Reizvolle ins visuell Überreizte gesteigert. Um nicht falsch verstanden zu werden: SHIT YEAR ist in seinem eigenwilligen Mix aus psychedelisierenden Sequenzen, nüchternen Monologen, theaterartigen Rückblenden und in seiner bestechenden Schwarzweißfotografie nicht ohne Schick, keinesfalls, nur die Dosis stimmt hier nicht. Es wirkt zu viel, weil es von einem zu wenig hat – vom Kino. Eine stilistische Fingerübung: ja! Ein Experiment zur Formvollendung: ebenfalls. Aber dafür hätten andere Kunstformen wie das Hörspiel, die Performance oder die Installation genügt. Des eher konservativen Mediums „Kinofilm“ hätte es nicht unbedingt bedurft, und einer Schauspielerin wie Ellen Barkin auch nicht, weil sich ihr beeindruckender Auftritt in der Gemengelage aus Formspielen leider erübrigt. Wobei man da nachlegen muß: Die Barkin ist zweifelsohne nach wie vor eine geradezu berückende Schauspielerin, Mimin kann man indes nicht mehr per definitionem sagen, weil auch sie zu den Enttäuschten gehört, an denen unverrückbar zu erkennen ist, daß die kalifornischen Chirurgen wieder einmal schneller waren, als daß Hollywoods Bosse erkannt hätten, daß man auch Frauen über 50 ganz selbstverständlich in tragenden Rollen besetzen kann.

Anyway: SHIT YEAR möchte schräg und ungewöhnlich sein, dieser unbedingte Stilwille bringt in jedem Fall interessante Bilder, setzt ein fast übergroßes Maß an Konzentration beim Betrachter voraus, und ist – was nicht pejorativ gemeint ist – in den richtigen Momenten geradezu ätzend, weil er dann bewußt überzieht. Was aber – und das ist für den Zuschauer das an sich Enttäuschende bei diesem Film – dabei verloren geht, ist der Kern seiner Geschichte: SHIT YEAR hätte eine Ballade über Einsamkeit werden sollen, eine grausame Einsamkeit, aus der es kaum – selbst wenn sie freiwillig gestaltet wurde – ein irgendwie glückliches Entrinnen geben kann. Wie gesagt: hätte ... Was bleibt, ist in jedem Fall die Neugier, was uns Cam Archers dritter Film wohl vorschlagen wird.

Originaltitel: SHIT YEAR

USA 2009, 96 min
Verleih: Salzgeber

Genre: Drama, Experimentalfilm

Darsteller: Ellen Barkin, Luke Grimes, Bob Einstein

Regie: Cam Archer

Kinostart: 08.09.11

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.