Noch keine Bewertung

What Time Is It There?

Stilles Filmgedicht aus Taiwan

Tsai Ming-Liang dürfte seit THE HOLE und THE RIVER auch hierzulande kein Unbekannter mehr sein. Wer sich des Namens und der Titel nicht erinnert, wird zumindest die filmische Handschrift und die Thematik wiedererkennen. Tsai Ming-Liang erweist sich mit seinem neuen Film einmal mehr als Meister der formalen Strenge, und er setzt zu einer neuerlichen Reflexion über die Zeit an.

Diesmal inszeniert er eine parallele Geschichte. Ausgangspunkt ist die eher beiläufige Zufallsbegegnung des Uhrenverkäufers Hsiao-Kang mit Shiang-Chyi, einer jungen Frau, die am nächsten Tag nach Paris aufbricht. Hsiao-Kang, der gerade seinen Vater verloren hat, bleibt in Taipeh zurück. Die Trauer seiner Mutter, welche die Tage damit verbringt, für die Seele ihres toten Mannes zu beten und gleichzeitig dessen Rückkehr erwartet, wird für ihn unerträglich. Er beginnt alle seine Sehnsüchte auf die Begegnung mit Shiang-Chyi zu projizieren. Um die räumliche Distanz nach Paris zu überbrücken, beginnt Hsiao-Kang alle Uhren seiner Umgebung auf mitteleuropäische Zeit umzustellen. Während seine Mutter die verstellten Uhren als Zeichen ihres verstorbenen Gatten deutet, scheinen sich seltsame Parallelen im Leben Hsiao-Kangs und Shiang-Chyis in Paris einzustellen ...

Tsai Ming-Liangs Film ist eine Einladung. Wer sie annimmt, dem wird Raum für Gedanken eröffnet - über Gegenwart und Abwesenheit, über Raum und Zeit, Leben und Tod oder über die Gleichzeitigkeit des Anderen. Die langen Einstellungen, die spärlichen Dialoge und die einsamen, unmotiviert erscheinenden Protagonisten sind Merkmale der für Tsai Ming-Liang typischen Stringenz, welche dem Zuschauer auch Geduld abverlangt. Wer hier schwerfälliges Kunstkino vermutet, liegt falsch. Tsai Ming-Liangs Humor findet sich gerade in den ruhigen, fast gänzlich ohne Kamerafahrten gedrehten Bildern sowie im lakonischen Tonfall seiner Darsteller.

Seinen pointiert eingesetzten Witz gilt es genauso zu entdecken wie die zeitgenössischen Stimmungen, die jeder Film Tsai Ming-Liangs widerspiegelt. Zu denen gehört neben Verzweiflung und Paranoia eben auch die Absurdität.

Originaltitel: NI NEI PIEN CHI TIEN

Taiwan/F 2001, 116 min
Verleih: Pegasos

Genre: Liebe, Poesie

Darsteller: Lee Kang-Sheng, Chen Shiang-Chyi

Regie: Tsai Ming-Liang

Kinostart: 14.08.03

[ Jane Wegewitz ] Für Jane ist das Kino ein Ort der Ideen, ein Haus der Filmkunst, die in „Licht-Schrift“ von solchen schreibt. Früh lehrten sie dies Arbeiten von Georges Méliès, Friedrich W. Murnau, Marcel Duchamp und Man Ray, Henri-Georges Clouzot, Jean-Luc Godard, Sidney Lumet, Andrei A. Tarkowski, Ingmar Bergman, Sergio Leone, Rainer W. Fassbinder, Margarethe v. Trotta, Aki Kaurismäki und Helke Misselwitz. Letzte nachhaltige Kinoerlebnisse verdankt Jane Gus Van Sant, Jim Jarmusch, Jeff Nichols, Ulrich Seidl, James Benning, Béla Tarr, Volker Koepp, Hubert Sauper, Nikolaus Geyrhalter, Thierry Michel, Christian Petzold und Kim Ki-duk.