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Der Engel von Doel

Über die Pflicht zum Ungehorsam

Das kleine Dorf Doel hat das große Pech, in unmittelbarer Nähe zum Antwerpener Hafen zu liegen. Pech deshalb, weil beschlossen wurde, eben diesen Hafen zu erweitern, was bedeutet: Das Dorf muß weg! Eine Gruppe älterer Damen will davon jedoch nichts wissen und stemmt sich mit der sympathischen Frechheit des Alters gegen ihre drohende Entwurzelung.

Kern dieser Widerstandsbewegung und des Films ist Emilienne. Ihr Küchentisch wird zum Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Hier sitzen die Frauen und beraten bei Bier und Zigaretten ihre Möglichkeiten. Hierbleiben oder wegziehen? Und wenn wegziehen, dann wohin? Das hat am Anfang viel Amüsantes, weil die Freundinnen dem Thema noch relativ gelassen entgegensehen. Da läßt sich zwischendurch auch mal über den Pastor lästern, dem sie gar nicht mehr zuhören wollen, weil der nur noch vom Sterben spricht. Aber die Lage spitzt sich zu. Die Frauen müssen feststellen, daß mit der Macht der Wirtschaft nicht zu spaßen ist, und so wandeln sich die Treffen zusehends ins Tragische.

Tom Fassaert fängt die Vorgänge in dem niederländischen Dorf in einem traumähnlichen Schwarzweiß ein. Das verstärkt die Tristesse des einst idyllischen Dorfes. Leere Straßen, verlassene Häuser. Und immer wieder der Blick von oben, als gäbe es tatsächlich jemanden oder etwas, der die Vorgänge genau im Blick hat. Aber er oder es beobachtet nur. Ein Eingreifen ist nicht sichtbar. Das Schicksal anscheinend schon besiegelt. Und so wirkt der verzweifelte Kampf von Emilienne um ihr liebgewonnenes Heim umso hoffnungsloser und tragischer, als auch noch ihre treuen Wegbegleiterinnen aufgeben.

Aber der Film behält sein Gleichgewicht und driftet nicht in eine depressive Elegie ab. So muß man trotz der immer näher rückenden Baumaschinen doch wieder schmunzeln, wenn sich Emilienne in Schale schmeißt und nach Jahrzehnten ihre Schminke rauskramt, um beim Bürgermeister vorstellig zu werden. Oder wenn die kurz vor der definitiven Räumung des Dorfes eintreffenden Künstler und Alternativen mit Musik dem Protest die Leichtigkeit zurückgeben, und die Kamera in einer Straße einen Esel einfängt, der eine Decke mit der Aufschrift trägt: Der Minister ist eine Schande für meinesgleichen.

Erzählerisch eine meisterhafte Mischung aus klassischer Beobachtung und künstlerischem Dokumentarfilm. Mit viel Witz und Charme, aber auch sehr einfühlsam erzählt, immer mit Blick auf die Einzelschicksale, die eine politische Entscheidung nach sich zieht.

Originaltitel: DE ENGEL VAN DOEL

NL/Belgien 2011, 77 min
Verleih: Arsenal Institut

Genre: Dokumentation

Stab:
Regie: Tom Fassaert
Drehbuch: Tom Fassaert

Kinostart: 18.10.12

[ Marcel Ahrenholz ] Marcel mag Filme, die sich nicht blind an Regeln halten und mit Leidenschaft zum Medium hergestellt werden. Zu seinen großen Helden zählen deshalb vor allem Ingmar Bergman, Andrej Tarkowskij, Michelangelo Antonioni, Claude Sautet, Krzysztof Kieslowski, Alain Resnais. Aber auch Bela Tarr, Theo Angelopoulos, Darren Aronofsky, Francois Ozon, Jim Jarmusch, Christopher Nolan, Jonathan Glazer, Jane Campion, Gus van Sant und A.G. Innaritu. Und, er findet Chaplin genauso gut wie Keaton ...