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Im Nebel

Erst kommt das Fressen?

Burov und Voitik, zwei magere Gestalten, reiten durch den weißrussischen Wald, den Krieg und die deutschen Besatzer stets in der Nase. In einem ärmlichen Häuschen inmitten der Landschaft sind sie endlich am Ziel. Der Hausherr Sushenya weiß, was ihn erwartet. Er schultert die Schaufel, die wohl nötig sein wird, und folgt den Besuchern in den abendlichen Wald, der sein Grab werden soll. Denn das Zwei-Mann-Standgericht hat den Auftrag, einen vermeintlichen Verrat zu sühnen. Doch Schüsse aus dem Hinterhalt vereiteln das Unterfangen. Der Verurteilte und seine verhinderten Henker müssen fliehen. Gemeinsam. Aus dieser Konstellation entwickelt Sergei Loznitsa eine vielschichtige, ästhetisch aufregende wie intellektuell anregende Parabel um Moral in unmoralischen Zeiten, um Schuld nach dem Totalverlust der Unschuld.

War der Zweite Weltkrieg in MEIN GLÜCK, Loznitsas fatalistischem Spielfilmdebüt über Gewalt- und Willkürimplosionen in der postsowjetischen Provinz, lediglich winziger Teil eines sozialatmosphärischen Puzzles, so wird er hier zur historischen Knisterfolie für eine Reflexion über die ethische Biegsamkeit des Menschen im Ausnahmezustand. „Alles instabile Elemente“, sagt Voitik über die Natur seiner Spezies. Wie dieser verschlagene Geselle auf die Seite der Guten gelangte, aus welchem widerspenstigen Holz Burov zum Partisanen geschnitzt wurde und warum der gütige Eisenbahner Sushenya vom Saboteur wider Willen zum tragischen Überlebenden einer Strafaktion avancierte?

In Rückblenden, ausgelöst von einem müden Blinzeln und filmisch ganz in die Rahmenhandlung integriert, skizziert Loznitsa Charakter und Vorgeschichte seiner Figuren mit einer solchen Verschwiegenheit und Präzision, daß man sich wundert, warum andere dafür so viele Worte brauchen. Und traktiert den immer noch staatstragenden Mythos des selbstlosen Sowjetpartisanen gleichsam im Vorübergehen mit kleinen, aber schmerzhaften Nadelstichen. In der virtuosen Erzählstruktur durchaus mit Meisterwerken wie RASHOMON verwandt, mit überragenden Bildfindungen und einer manchmal wie zum Genickschuß im Nacken der Protagonisten lauernden Kamera, nicht zuletzt mit wohltemperierten Plansequenzen, die das Grundgefühl einer umfassenden moralischen Ermattung weiter zuspitzen, spätestens also mit dieser Arbeit gehört der als Dokumentarfilmer anerkannte Loznitsa auch in den zeitgenössischen Spielfilmolymp.

Originaltitel: V TUMANE

D/Rußland/Lettland/ NL/Weißrußland 2012, 128 min
FSK 12
Verleih: Neue Visionen

Genre: Drama

Darsteller: Vladimir Svirski, Vlad Abashin, Sergei Kolesov

Regie: Sergei Loznitsa

Kinostart: 15.11.12

[ Sylvia Görke ]