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Jackie (2012)

Herzrührende Tragikomödie über Sehnsüchte, Neujustierung und Schattensprünge

Kann man jemanden vermissen, ohne ihn überhaupt zu kennen? Ich denke schon.

Der Mensch ist ein sich ständig fragendes Wesen, dem immer genau das fehlt, was er nicht hat oder nicht haben kann. Wobei es da natürlich Unterschiede gibt, eineiig-zweieiig hin und her, bei den Zwillingen Sofie und Daan beispielsweise: Sie sind verschieden, sehen verschieden aus, sie erwarten vom Leben andere Dinge, und sie hinterfragen ihre Herkunft ganz unterschiedlich. Die beiden sind von zwei schwulen Männern großgezogen worden, unstrittig ihre Väter. Während Sofie sich hinter ihrer Arbeit als Magazinmacherin verschanzt, richtet sich Daan in ihrer Ehe praktisch ein, und wenn eine von beiden sich Gedanken über ihre Mutter macht, dann Daan. Für Sofie hat die große Unbekannte allenfalls Leiharbeit geleistet, ein Ei geliefert und aus die Maus. Entsprechend unterschiedlich fallen die Reaktionen aus, als das Telefon klingelt, ein Anruf aus Amerika, es geht um ihre Mutter.

Die eine staunt, die andere flucht, im Flugzeug sitzen kurz darauf dennoch beide. Doch die Person, die sie treffen werden, ist erst einmal eher von besorgniserregendem als mütterlichem Antlitz: Jackie sieht angeschossen aus, reagiert wie ein wildes Tier, kommuniziert nur das Notdürftigste und will schnellstens raus aus der Klinik. Viele Fragen stellt sie nicht, kommt auf den Punkt und ist kurz darauf mit den Mädchen in ihrem klapprigen Vehikel durch Amerika unterwegs. Eine Reise, die zum Kennenlernen dient, auf der Zweifel entstehen, Wunden aufreißen und komplette Positionen von Bord gehen.

Man möchte beim Anblick der Mädchen spontan ausrufen: „Endlich streiten sie!“ Es ist so wunderbar zu sehen, wie wenig es an sich braucht, um doch gleich drei Leben gehörig durcheinander zu puzzeln. Die Energie dieses anrührenden Roadmovies zieht sich aus den konträren Figuren, die sich zunehmend entblößen auf diesem Trip durch New Mexico: um sich kennenzulernen, sich selbst neu zu justieren, und um hinterher genauer zu wissen, wen und was man im Leben bisher vermißt hat. Es sind drei aufregende Charaktere, denen wir hier begegnen: Sofie, dieses geschäftstüchtige LowCarb-Nervenbündel, Daan, ein Bienchen im Zusammenklauben einer scherbenartigen Ehe, und Jackie, das wilde, auf den ersten Blick wenig mütterliche, auch mal ins Bild rülpsende Sehnsuchtstier. Drei wie füreinander geschaffen auf einer Reise ins Wir, die Stationen über das erste Schlangenmahl, den Hilfseinsatz einer Bikerlesbenbande und so manchen Sprung ins kalte Wasser bereithält – unbekanntes Fahrvermögen inklusive.

Es geht also auch um das Über-den-Schatten-Springen, das Zentrum der Geschichte aber ist die Suche nach den eigenen Wurzeln, die nicht grundlos zu einer kaum verzichtbaren Mutterfigur führt. Wobei gleich klargestellt sei, und weshalb im Spiel von Holly Hunter als

Jackie ohnehin kein falscher Verdacht aufkommt:

JACKIE kümmert sich in keinem Moment um das Bebildern eines betulichen rosaroten Gluckenheims. Regisseurin Antoinette Beumer hält in ihrer Geschichte beeindruckend den Spagat aus der Annäherung der beiden Schwestern und der anfänglichen töchterlichen Wehr, die zur Zuneigung wird, mindestens, nachdem sie lernen, daß das Schicksal Jackie durchaus übel zugespielt hat, und daß es im Laufe eines Lebens eben mehr als genug Versuchungen gibt, falsch abzubiegen. Jackie ist falsch abgebogen – So What? Die Mädels sind es auch!

Beumer erzählt letztendlich davon, dies zudem ganz unbelehrend, daß es nicht immer um Vernunft gehen kann: Wenn ein Mensch nur noch so funktioniert, wie man es von ihm erwartet, dann ist eigentlich alles Individuelle, alles Menschliche verloren. Sie reißt an, daß es in so vielen Konflikten oft genug nur um Ängste geht, und sie hält einen beherzten Lösungsvorschlag parat: Die ewige Furcht, daß man hier und da etwas Falsches tun könnte, kann man sich getrost dahin stecken, wo die Sonne nicht scheint. Die Reise der Drei, die im übrigen von der berückenden Landschaft der White Sands und ganz hinreißenden Songs eskortiert wird, lehrt schlicht, worauf es im Leben ankommt. Die nächste Ausgabe des Magazins, für das Sofie arbeitet, ist dies sicherlich nicht. Kurz vor Schluß gibt es in diesem herzrührenden Film noch einen Kniff, der auch dem letzten allein an eine versachlichte Vernunft glaubenden Zuschauer dann doch die Tränen schießen lassen wird.

Eine Empfehlung an die Kinos und den Filmfreund gleichermaßen: JACKIE muß man im Original sehen! Allein wegen Holly Hunters einmaliger Stimme. Die ließe sich am ehesten noch mit der Katharina Thalbachs vergleichen, was man ansonsten nicht intensiver assoziiert, weil sie bei Holly Hunter aus einem durchs Alter so richtig schön gewordenen Gesicht kommt.

Originaltitel: JACKIE

NL/USA 2012, 98 min
FSK 12
Verleih: Schwarz-Weiß

Genre: Tragikomödie, Roadmovie

Darsteller: Carice van Houten, Holly Hunter, Jelka van Houten

Regie: Antoinette Beumer

Kinostart: 18.07.13

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.