8 Bewertungen

Mein Leben als Zucchini

Traurige Kulleraugen verzaubern die Kinowelt

Auf der letzten DOK-Woche gab es eine Premiere: Das erste Mal eröffnete ein Animationsfilm das Festival. Und auch wenn damit die großen politischen Themen vordergründig nicht besetzt wurden, so steht doch Claude Barras Geschichte, die er übrigens zusammen mit Celine Sciamma, der Regisseurin von TOMBOY, nach der Romanvorlage „Autobiographie einer Pflaume“ von Gilles Paris entwickelte, für vielerlei, das gesellschaftlich relevant ist. 

Man darf sich nicht von einem ersten Blick auf die kulleräugigen, niedlichen Charaktere täuschen lassen. Denn sie alle leben zusammen in einem Waisenhaus. Icare, der aber unbedingt Zucchini genannt werden will, ist hier mit seinen neun Jahren gelandet, weil seine Mutter starb, und der Vater vor langer Zeit verschwand. Daß Zucchini nicht ganz unbeteiligt am Tod seiner Mutter ist, macht seine seelische Lage nicht besser. Auch alle anderen Kinder haben traumatische Erfahrungen mit drogenabhängigen Eltern, Mißbrauch oder der Abschiebung der Mutter. Jetzt versuchen sie, sich in der Gruppe zusammenzuraufen. Vor allem Simon, der rüpelhafte Anführer, macht Zucchini zunächst das Leben schwer. Alles wendet sich zum Besseren, als eines Tages Camille ankommt. Sie bringt Zucchinis Herz zum Hüpfen und die anderen Kinder zum Lachen. Ihre bösartige Tante will Camille jedoch bei sich einquartieren, um das Pflegegeld zu kassieren. Ein Plan muß her.

Dem Schweizer Regisseur gelingt die große Kunst, eine einfache, ja moralische Handlung mit unzähligen genau beobachteten Momenten und liebevoll animierten Details zu versehen. Türen werden geöffnet, hinter denen Erinnerungen und Assoziationen aufblitzen, die den Zuschauer berühren. Da wird im Kinderschlafsaal ganz lässig über Beischlaf geredet, die Kinder tanzen zu „Eisbär“ von Grauzone, Raymond, der „Bulle“, ist passionierter Kakteensammler, und aus einer Bierdose, Zucchinis letztem Erinnerungsstück an die Mutter, wird ein selbstgebasteltes Schiff und Geschenk für Camille.

Gut geschriebene Dialoge lassen die Stimmung zwischen ausgelassen und tief betrübt schwanken. So wird Zucchinis Leben zu einem gelungenen Abbild des „echten“, das mit all seiner Tragik für sehr viele Kinder leider alltägliche Normalität ist. Politik beginnt in der kleinsten Zelle des Privaten. Das wird in Barras Stop-Motion-Animation in jeder Szene zelebriert. Und wenn man hier ansetzt zu handeln, gibt es immer Hoffnung.

Originaltitel: MA VIE DE COURGETTE

CH/F 2016, 66 min
FSK 0
Verleih: Polyband

Genre: Animation, Kinderfilm, Tragikomödie

Regie: Claude Barras

Kinostart: 16.02.17

[ Susanne Kim ] Susanne mag Filme, in denen nicht viel passiert, man aber trotzdem durch Beobachten alles erfahren kann. Zum Beispiel GREY GARDENS von den Maysles-Brüdern: Mutter Edith und Tochter Edie leben in einem zugewucherten Haus auf Long Island, dazu unzählige Katzen und ein jugendlicher Hausfreund. Edies exzentrische Performances werden Susanne als Bild immer im Kopf bleiben ...