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Nostalgia de la luz

Sonne, Mord und Sterne

LA BATALLA DE CHILE, eine 1972 begonnene, auf drei Teile und annähernd 300 Minuten angewachsene Filmchronik zur Vor- und Leidensgeschichte der Pinochet-Diktatur, begründete Patricio Guzmáns Ausnahmestellung im politischen Dokumentarfilm. Sein großes Thema hatte ihn gefunden – mit Gewalt. Welche Wege er seither auch einschlagen mochte – über kurz oder lang, so oder anders, führten sie ihn dorthin zurück, unerbittlich. In NOSTALGIA DE LA LUZ läßt sich Guzmán nun gewissermaßen von den Sternen leiten – und gelangt an einen Ort, an dem sich alle anderen Wege zu kreuzen scheinen.

In der Atacamawüste im Norden von Chile sammeln sich die Suchenden. Über der eigentlich kaum besiedelten Landschaft, die selbst wie ein fremder Planet aussieht, recken sich Teleskope in den Himmel, der hier so blickdurchlässig ist wie sonst nirgends auf der Welt. Ein Zufall, daß man auf diese naturgegebene Klarheit ausgerechnet zur Zeit der chilenischen Revolution aufmerksam wurde? Eine Gegenwart jedenfalls, so läßt sich der Regisseur von einem Astronomen belehren, existiere nicht. Denn jede Wahrnehmung sei nur Reflexion von Vergangenem: vor Millionen von Jahren oder vor Bruchteilen von Sekunden.

In anderen Wüstenecken tummeln sich Archäologen, denen das trockene Klima ganze prähistorische Kulturen erhalten hat. Ein paar Kilometer weiter graben sich Frauen Zentimeter für Zentimeter durch den Wüstenboden, um Reste von Schienbeinen und Unterarmen zu finden, die einmal zu ihren unter Pinochet „verschwundenen“ Ehemännern und Brüdern gehörten.

Guzmán ist auf Seelenverwandte gestoßen – Sternen-, Stein- und Knochenforscher, allesamt besessen von Vergangenheiten, die unter und über der Atacamawüste nachleuchten, weiterglimmen, sich partout nicht in Nichts auflösen wollen. In seinem bildgewaltigen Filmessay legt er luzide Gedanken über vage Ahnungen, läßt galaktische Partikelschauer über glasklare Landschafts- und Architekturaufnahmen regnen, versenkt sich in die Milchstraße, um in der Bücherwand eines ehemaligen politischen Häftlings wieder aufzutauchen.

Daß es sich bei diesem vieldimensionalen Prisma letztendlich auch um ein Gebilde von überwältigender intellektueller Klarheit handelt, grenzt eigentlich an ein Wunder. Oder nein. Es ist Ausdruck von poetischer und handwerklicher Meisterschaft.

Originaltitel: NOSTALGIA DE LA LUZ

F/D/Chile 2010, 90 min
Verleih: Real Fiction

Genre: Dokumentation, Polit

Stab:
Regie: Patricio Guzmán
Drehbuch: Patricio Guzmán
Kamera: Katell Djian
Musik: José Miguel Miranda, José Miguel Tobar

Kinostart: 06.01.11

[ Sylvia Görke ]