Originaltitel: SON FRÈRE

F 2002, 90 min
Verleih: Concorde

Genre: Drama, Schwul-Lesbisch

Darsteller: Bruno Todeschini, Eric Caravaca, Sylvain Jacques, Robinson Stévenin

Regie: Patrice Chéreau

Kinostart: 27.11.03

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Sein Bruder

Der Körper schmerzt, die Seele heilt - ein Abschied und ein Neubeginn

Für beide ist das Ende ein Anfang. Ein Beginn der Annäherung, des Erinnerns, der Zenith des sanften, jahrelangen Belauerns. Ein kurz aufflammendes Hallo und dabei ein sehr trauriger und sehr friedlicher Abschied.

Thomas ist krank. So kompliziert und unheilbar krank, wie es einem nur das unberechenbare Blut aufbürden kann. Seine Freundin Antoinette ist nicht mehr in der Lage, ihm beizustehen. Thomas selbst ist kaum fähig, sich aufzumuntern, mal an etwas anderes zu denken, als an den nahenden Tod. Sein Bruder Luc ist kerngesund, ihm zur Seite, etwas verbittert - vom Abschiednehmen, von der späten Erkenntnis, daß man sich braucht, von wechselnden Liebhabern, von der überbewerteten Last, 30 zu sein und sich dabei jung zu fühlen. Doch Luc ist stark, er schaut den Krankenschwestern zu, wie sie Thomas waschen, rasieren, ihn auf die nächste bevorstehende Operation vorbereiten. Wie Thomas leidet, wie er krepiert. Doch sie fahren noch mal ans Meer, den Ort ihrer Kindheit, diese Wüste aus Sand, Wasser und Vorwürfen. Es ist die Wiege einer Liebe, wie sie nur unter Brüdern existiert, die schmerzlichste Liebe von allen, weil jeder anders lebt, anders denkt und anders liebt. Doch man fühlt dasselbe und kann es nur verschieden benennen. Hier wird ihnen klar, daß ihre gemeinsame Zeit zu selten genutzt und nun am Verrinnen ist. Eine bittere Erkenntnis, aber auch eine wertvolle. Sie wissen jetzt, daß sie sich immer nahe waren.

Patrice Chéreau liebt die Körper, er liebt sie in der Blüte, er verehrt sie im Verfall. Eine reichlich idealistische Sicht, aber eine intelligente, schmerzvoll erkenntnisbeseelte und eine entlarvende zudem. Chéreau entpuppt den Jugendwahn, diese Hysterie um uniforme Körperlichkeit als das, was sie ist: plumpe, schmucklose Armseligkeit. Er ist in der Lage, Dinge im Stillen, im behutsamen Erwähnen zu benennen. Andere würden sich grob und ungeschickt in Erklärungsnotstand bringen. Chéreau reißt an, skizziert, tupft, blickt in Gesichter, die müde sind, die nicht weiter denken wollen, denen aber noch immer der Hunger nach dem winzig kleinen Hoffnungsschimmer anzusehen ist. Vincent zum Beispiel, ein Patient, dem Luc im Hospital begegnet, ist 19, fertig und einfach so traurig, wie die dunkelste Giftpfütze im Märchenwald: er hat Angst, wenn ihm die Ärzte frohlockend versichern, nun das letzte Stück vom kranken Darm zu operieren. Was kommt danach, wenn’s schon das letzte ist? Vincent hat nur einen einzigen sehnlichen Wunsch. Der hat mit Leben schon nicht mehr viel zu tun, eher mit Pause: "Ich will nicht mehr aufgesäbelt werden" sagt er mit großen, nassen und bittertraurigen Augen. Chéreau weiß genau, was weh tut - seinen Figuren, dem Zuschauer und der großen Marianne Faithful, die zweimal mit ihrer Zigarettenstimme "Sleep" singen darf.

Schlaf wird auch im Bruderbund die Erlösung sein. So wird der todkranke Thomas beschenkt, wir werden es mit diesem zu Dank verpflichtendem Film auch.

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.