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Stories We Tell

Makellose Grabungsarbeiten einer Schusterin, die zum Glück nicht bei ihrem Leisten blieb

Schauspielernde Sänger, trällernde Mimen oder gar der Wechsel zum Regiefach – das mündet erfahrungsgemäß gern in etwas, das wir mal polemisch als „Madonna-Fiasko“ wortschöpfen. Anders bei Sarah Polley: Die eher fern gängiger Publikumsaufmerksamkeit beheimatete Aktrice inszenierte mit AN IHRER SEITE sowie TAKE THIS WALTZ nach eigenen Drehbüchern Filme, welche Weisheit, Talent und machetenscharfen Blick für zwischenmenschliche Belange bewiesen. Zwar könnte man das im Negativ-Modus einfach abschmettern, schließlich hat die Dame bereits unter David Cronenberg, Isabel Coixet oder Atom Egoyan gearbeitet, ergo vielleicht bloß gut aufgepaßt. Doch diese Schlußfolgerung griffe zu kurz, denn jetzt wagte sich Polley an eine Dokumentation – und gewann: einige Preise, euphorisches Feedback, unsere Herzen.

Sie befragt ihre Familie nach der früh verstorbenen Mutter Diane und erhält zunächst harmlos-rührende Auskünfte: Mom konnte nicht singen, war warmherzig, lachte immer und ignorierte Ordnung. Eine Frau, ein Denkmal. Jenes steht indes auf wackeligem Fundament, wie die Forschungen ergeben, denn in der Ehe mit Polleys Vater Michael hörten die Gegensätze schleichend auf, einander anzuziehen, irgendwann überwog schließlich die Erleichterung, wenn aus beruflichen Gründen eine räumliche Trennung stattfand. Dann wurde Sarah geboren, eine Nachzüglerin. Und angesichts der genannten Beziehungsprobleme fragt sich Polley heutzutage, ob Michael tatsächlich ihr Daddy ist, rein biologisch gesehen.

Die anschließende Spurensuche steht nun zwangsweise im Verdacht des genüßlichen Waschens schmutziger Wäsche auf Kosten einer Wehrlosen. Aber: Wer regenbogenpressenverseucht gleich aufgeregt grinst oder vom Blätterwaldrauschen betäubt abwinkt, sei enttäuscht beziehungsweise entwarnt, weil gellendes Sensationsgekreisch nirgends (ver-)stört. Natürlich muß Polley Verwandten, Freunden, Wegbegleitern zu Leibe rücken, unbequeme Reflexionen herauskitzeln, nur eben ungeschminkt und dezent. Klar atmet zudem der Gedanke, wen überhaupt „unsere Familie interessieren soll“, manche Wahrheit. Doch erneut fehlt dabei der Spagat über das Offenbare hinweg, Polley wählt schlicht den vermutlich einzigen für eine öffentliche Person naheliegenden Weg, um die Seele zu entlasten, Antworten zu finden. Zumal jenes „Wo kam ich her? Wer bin ich eigentlich?“ wohl zu den großen Mysterien vieler Menschen zählt. Leicht hochtrabend formuliert, reift Polley hier ohne Heiligenschein zur Mater dolorosa aller Gepeinigten da draußen, zum Sammelbecken für Zweifel, Unsicherheiten, Sehnsüchte; dem Kinobesuch folgende Katharsis inklusive, Aktivität vorausgesetzt, man muß schon dran ansetzen wollen.

Fast fiele da dem Vergessen anheim, daß Polley nebenbei auch das Wiedergeben in seinen üblichen Formen seziert, die Organe auf den Prüfstand legt und teils anders anordnet. Ein Beispiel: Aus verständlichen Gründen existieren keine Aufnahmen, in denen Diane geheimnisvolle Telefongespräche führt. Was tut die kluge Filmemacherin demnach, dem visuellen Medium verhaftet und entschlossen, mehr zu bieten als ständige Interviews? Genau, sie inszeniert das Fehlende, läßt fähige Kollegen diese Schlüsselmomente darstellen, wacklig abgelichtet und später auf alt getrimmt kaum vom echten Archivmaterial zu unterscheiden. Genregrenzen? Wen interessiert’s?! Polley jedenfalls nicht, ihr Hauptaugenmerk gehört – neben der intimen Aufarbeitung – eindeutig dem Erkunden, wie subjektiv Geschichten sind und entsprechend aufgenommen gehören. Geschickt montierte Widersprüche, oft verletzende Erinnerungsscherben, individuelle Analysen, schlußendlich im Abspann das Führen ihrer Gesprächspartner unter „Storytellers“ – höchst spannende 108 Minuten loten anhand einer sehr persönlichen Basis die Komplexität des Erzählens aus.

Zwei Konsequenzen liegen auf der Hand: Spätestens ihr drittes Werk sollte Polley endlich einen weitläufig wahrgenommenen Logenplatz auf dem Regiethron sichern. Und hinsichtlich des berühmten Schusters, welcher lieber bei seinem Leisten bleiben mag, darf völlig neu verhandelt werden.

Originaltitel: STORIES WE TELL

Kanada 2012, 108 min
FSK 0
Verleih: Fugu

Genre: Dokumentation, Familiensaga, Mockumentary

Darsteller: Rebecca Jenkins, Peter Evans, Alex Hatz

Stab:
Regie: Sarah Polley
Drehbuch: Sarah Polley

Kinostart: 27.03.14

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...