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Vol spécial

Gute Reise?

Fernand Melgar läßt das Thema Migration nicht los. Das ist kein Wunder. Wer einmal gesehen hat, was die kontinuierliche Verschärfung der Asylgesetze bewirkt hat, der kann nicht mehr wegschauen. Nachdem Melgar mit seinem Vorgängerfilm LA FORTRESSE in einem „Empfangszentrum“ dokumentiert hat, was passiert, wenn Menschen in der Schweiz Asyl beantragten, wagt er nun den Blick in ein sogenanntes Ausschaffungsgefängnis, einen Abschiebeknast. Hier warten Menschen auf ihre „Ausschaffung.“ Ihr einziges Verbrechen war es, sich ohne gültige Papiere in der Schweiz aufgehalten zu haben – und dort teilweise seit 20 Jahren zu leben, zu arbeiten, Steuern zu zahlen und Familien gegründet zu haben. Weigern sie sich, freiwillig zu gehen, erwartet sie ein Spezial-Flug, ein „Vol spécial“, den sie gefesselt, oft auch geknebelt antreten. All das ist rechtlich abgesichert, legal. Ob es auch legitim ist, diese Frage stellt Melgar in seinem Film.

Das Besondere an VOL SPÉCIAL ist seine egalitäre Perspektive. Melgar gelingt es, sich mit einem vorurteilsfreien Blick im Abschiebeknast zu bewegen. Er zeigt beide Seiten, Häftlinge und Gefängnismitarbeiter, und er zeigt sie auf Augenhöhe, ohne daß dabei der Sinn für die scharfe Hierarchie in der Struktur dieses Hauses abhanden kommt. Kritik erhielt er dafür von Rechts und Links. Zur Premiere in Locarno kritisierte der Jurypräsident den Film als „faschistisch“, weil die Wärter überhaupt zu Wort kamen. Daheim in der Schweiz organisierte die rechtsgerichtete SVP eine Kampagne gegen den Film, aus entgegengesetzten Gründen. Viel Feind, viel Ehr.

Melgar geht es ganz ausdrücklich nicht darum, die Brutalität Einzelner zu thematisieren, sondern die Absurdität des Systems zu offenbaren. Ein System, in dem Wärter Abgeschobenen hilflos eine „Gute Reise!“ wünschen, und sich die Insassen dafür revanchieren, daß sie sich bei ihren Wärtern ausgesprochen höflich für die Überbringung des Abschiebungsbescheides bedanken. Melgar legt die Adern dieses skandalösen Systems offen, dessen größtes Problem die Verweisbürokratie ist, also die Tatsache, daß sich niemand für die Gesetze verantwortlich fühlt, und die Menschen, die sie durchsetzen müssen, letztlich fast genauso arm dran sind wie diejenigen, die sie abschieben müssen.

Dieser Blick ist alles andere als faschistisch, er ist sogar ausgesprochen mutig, weil er sich den einfachen Wahrheiten verschließt und sich stattdessen der Komplexität der Realität stellt.

Originaltitel: VOL SPÉCIAL

CH 2011, 100 min
Verleih: Association Climage

Genre: Dokumentation, Polit, Schicksal

Stab:
Regie: Fernand Melgar
Drehbuch: Fernand Melgar

Kinostart: 26.01.12

[ Luc-Carolin Ziemann ] Carolin hat ein großes Faible für Dokumentarfilme, liebt aber auch gut gespielte, untergründige Independents und ins Surreale tendierende Geschichten, Kurzfilme und intensive Kammerspiele. Schwer haben es historische Kostümschinken, Actionfilme, Thriller und Liebeskomödien ... aber einen Versuch ist ihr (fast) jeder Film wert.