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Westwind

Kein nächstes Jahr am Balaton

Man ist da mittlerweile schnell dabei: Bitte nicht noch ein Wendedrama! Diesem Film mit dem metaphorischen und dennoch trefflichen Titel würde man unrecht tun, denn Robert Thalheim hat genau das Richtige aus der abenteuerlichen Vorlage, die das Leben schrieb, gemacht: eine Abkehr vom politisch-historisierenden Drama, hin zu einer Jugendgeschichte, vielleicht zu einer der mitreißendsten DDR-Jugendkinogeschichten überhaupt, die in der Wendezeit angesiedelt ist. Thalheim und die Autoren erzählen vor allem von dem, was Jungsein ausmacht: Reisen, die erste große Liebe, sich über Gebote und Verbote hinwegsetzen, unvernünftig sein. Die Zwillingsschwestern Isabel und Doreen reisen an den Balaton – zum Trainieren als Vorbereitung auf die nächste Stufe ihrer Ruderinnenkarriere. Die beiden erleben schnell, was geübte DDRler damals auch erlebten: Ungarische Händler rümpften ein wenig die Nase: „Ostdeutsch? Alles teuer ...“ Doch Isa und Dorle lassen sich die Reise nicht vermiesen, auch nicht, als sie den Bus zum als Unterkunft vorgesehenen Pionierlager verpassen. Schließlich hält im Regen ein orangefarbener VW-Käfer an, um sie mitzunehmen. Kennzeichen HH ...

Auftakt zu einer erst schwärmerischen, dann leidenschaftlichen und schließlich verhängnisvollen Bekanntschaft, denn Dorle und Arne verlieben sich. Nach ersten Küssen, einer geschenkten LP von The Cures „Kiss Me, Kiss Me, Kiss Me“und Liebesschwören auf dem Walkman macht Arne Dorle einen sehr ernst gemeinten Vorschlag: „Komm mit nach Hamburg!“ Anfang und Ende, davon erzählt Thalheim. Wo fängt Gehorsam an, wo hört die Vernunft auf, wann wird aus jugendlichem Leichtsinn eine Entscheidung für immer? Aber Dorle weiß ja: „Vielleicht passiert so etwas nur einmal im Leben!“

Damit hat sie recht, man ist nur einmal frei, in Liebe zu entbrennen geschieht auch nicht alle naselang, und Jugend ist ohnehin unique. Dieses gestraffte Erzählen von sportlichen Träumereien und verbotenen Früchten, über das Verlieben bis zum geprüften Erwachsenwerden, vom neckischen Ungarisch-Vokabeltest während der Hinfahrt bis hin zum extremen Belastungstest zwischen den Schwestern glückt vor allem deshalb, weil die Macher des Films verstehen, ein Gefühl einzufangen. Diese Schwebe zum Beispiel, die man nur als ganz junger Mensch erfährt, oder auch das bleierne Gefühl der Angst – Angst davor, vielleicht doch das Falsche zu machen, Menschen zu enttäuschen und stärker noch die Furcht vor dem Getrenntsein. Gerade bei Zwillingen ist das Verbundensein sprichwörtlich und somit unvergleichbar stark ausgeprägt. Daher ist es auch nicht nur dahergesagt, wenn Dorle – von Arne zu ihrer und Isas Zukunft befragt – ganz sicher weiß: „Es ist nicht so wichtig, was wir machen, Hauptsache, wir machen das zusammen!“

WESTWIND funktioniert auch deshalb so gut, weil Regisseur und Autoren nicht damit angeben, daß es sich hier um eine wahre Geschichte handelt. Daher artet der Film weder in eine Ausstattungsorgie mit Plastikretroschick aus, selbst wenn man auch da genau gearbeitet hat, noch drückt man zu sehr aufs Gefühligspedal. Nein, Thalheim schaut in Gesichter, der Wechsel von Schwerelosigkeit und Trennungsschmerz wird verinnerlicht, und es laufen die richtigen Songs. Das macht WESTWIND zu einem glaubwürdigen Film, was das Beste ist, was einem bei diesem Thema gelingen kann. Deswegen berührt der Film auch so ungemein.

D 2011, 90 min
FSK 6
Verleih: Zorro

Genre: Erwachsenwerden, Liebe, Historie

Darsteller: Friederike Brecht, Luise Meyer, Franz Dinda

Regie: Robert Thalheim

Kinostart: 25.08.11

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.