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2046

Wong Kar-wais fragiles Kinopoem mit Suchtpotential

Wong Kar-wai ist sicherlich der größte Melancholiker des modernen asiatischen Kinos, er scheint zugleich der europäischste Erzähler unter den fernöstlichen Regiestars. Was ein Grund sein dürfte, daß sich das asiatische Publikum bei seinen Filmen wie IN THE MOOD FOR LOVE in hochamüsanten Komödien wähnt, hingegen in unserem Kulturkreis das dramatische Potential seiner verzweifelten Liebesgeschichten gesehen wird.

Es müssen Dramen sein, schließlich erzählt Wong Kar-wai von bedingungsloser Liebe, von Träumen in die Vergangenheit, die sich in einer morbiden Mischung aus Scheinbarem und Tatsächlichem etwas verzerrt in der Erinnerung aufrufen. So geht’s dem Schriftsteller Chow, den wir in IN THE MOOD FOR LOVE schon lieben und leiden sahen, der nun im Hongkong der 60er Jahre an einem Zukunftsroman arbeitet. Dies tut er übrigens im Hotelzimmer, in dem er einst der schönen Su Li Zhen begegnete und welches die Nummer 2046 trägt. Während Chow die Geschichte einer hart auf die Probe gestellten Liebe im Jahr 2046 ansiedelt, brechen sich beim Schreiben Erinnerungen an drei seiner größten Lieben Bahn, nehmen die Gestalten aus der Zukunft teilweise die Züge der Verflossenen an, und auch Chow verliert sich zunehmend im Sog des Phantastischen, des Realen und des Absurden.

2046 ist vor allem ein grenzenloser Rausch. Ein Rausch, dem einiges Suchtpotential innewohnt. Ein Rausch der Bilder, der abwegigsten Gedanken, der Gefühle, ein multipel interpretierbares Kinopoem. Selten zuvor zeigte sich Wong Kar-wai von einer derart verzweifelten Verspieltheit, gerade in den Mitteln, die einen abwechselnd vor Freude, Ergriffenheit und Sorge rührt. Er entläßt den Zuschauer mit der traurigen Gewißheit, daß jede Erinnerung an vergangene Lieben in Tränen gebadet ist, daß nichts ewig währt und alles vom richtigen, kosmischen Zeitpunkt abhängt. Wer zu früh oder zu spät auf eine Seele trifft, erkennt sie nicht! Doch auch andere, in ihrer romantischen Schrägheit beeindruckende Einfälle kommen Wong Kar-wai in den Sinn: so finden Androiden Platz in Chows Roman. Androiden, die - wie man’s erwartet - stoisch, maschinenhaft und geradezu kalt wirken. Doch Kar-wai hat des Rätsels Schlüssel parat. Androiden ticken einfach nur anders, zeitversetzt: Finden sie etwas lustig, lachen sie mitunter erst eine Stunde später. Für Tränen dauert’s manchmal einen Tag.

Ein geniales, ein aufwühlendes Gleichnis der emotionalen Starre und der durch verängstigtes Kalkül bewirkten Fragilität der heutigen Menschheit.

Originaltitel: 2046

HK 2004, 127 min
Verleih: Prokino

Genre: Drama, Liebe

Darsteller: Tony Leung, Gong Li, Faye Wong, Zhang Ziyi, Maggie Cheung

Regie: Wong Kar-wai

Kinostart: 13.01.05

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.