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Carte Blanche

Grausame Präzision einer Barbarei

Viele europäische und weltumspannende Institutionen umweht das Flair einer wahr gewordenen Utopie alter Science-Fiction-Filme. Megacities, totale Überwachung, Weltregierungen. Dieses Gefühl des Fiktiven, des Unwirklichen wird dadurch unterstützt, daß kein Mensch außerhalb dieser Organisationen wirklich weiß, wie die Arbeit hinter den verspiegelten Glasfassaden ihrer Hochhäuser genau aussieht. Im besonderen trifft das auf den internationalen Gerichtshof in Den Haag zu. Das Wissen um seine Tätigkeit beschränkt sich doch meist auf Urteilsverkündungen in der Tagespresse.

Der Film von Heidi Specogna leistet hier Erstaunliches. Ihr Team begleitet einen Analysten und einen Rechtsmediziner vom Gerichtshof auf einer Recherchetour durch die Zentralafrikanische Republik. Es sind die Vorbereitungen eines Strafverfahrens gegen Jean-Pierre Bemba, dessen Armee im Jahr 2002 plündernd und vergewaltigend durch die Dörfer zog. Die Opfer dieser Gewalt berichten nun vor der Kamera von den Überfällen. Ihre Schilderungen sind detailliert, da die Reise letztlich der Beweisführung eines Gerichtsverfahrens dient, was dem Film eine grausame Präzision in der Aufarbeitung der Ereignisse verleiht.

Erstaunlich ist auch der zweite Erzählstrang des Films, der im Gerichtshof während des Prozesses spielt. Interviews mit dem Team der Anklage, internationale Staatsanwälte bei ihrer alltäglichen Arbeit und schließlich der Verhandlungsraum. Auge in Auge mit Jean-Pierre Bemba, der beim Verlesen der Anklagepunkte und selbst bei Zeugenschilderungen keine Miene verzieht. Aber der Film versucht, das Gleichgewicht zu wahren. Zeigt Bembas Familie, die gerührt die Töpferarbeiten des Vaters und Ehemannes aus dem Gefängnis vorzeigen. „Keiner hat von dieser Begabung gewußt!“, sagt seine Frau.

CARTE BLANCHE zeigt eine Menschlichkeit, die man hinter einem solchen Konstrukt wie dem ICC nicht vermutet. Männer und Frauen, die mit vollem physischen und psychischen Einsatz für Gerechtigkeit kämpfen – und am Recht scheitern. Denn am Ende kommt es, wie es kommen muß. Der Prozeß wird vertagt. Immer wieder. Leidtragende sind natürlich die Opfer, die sich erneut ihrem Trauma gestellt haben, in der Hoffnung, dazu beitragen zu können, das verübte Grauen aufzudecken und zu bestrafen.

D/CH 2011, 91 min
Verleih: PS Film

Genre: Dokumentation, Polit

Regie: Heidi Specogna

Kinostart: 30.08.12

[ Marcel Ahrenholz ] Marcel mag Filme, die sich nicht blind an Regeln halten und mit Leidenschaft zum Medium hergestellt werden. Zu seinen großen Helden zählen deshalb vor allem Ingmar Bergman, Andrej Tarkowskij, Michelangelo Antonioni, Claude Sautet, Krzysztof Kieslowski, Alain Resnais. Aber auch Bela Tarr, Theo Angelopoulos, Darren Aronofsky, Francois Ozon, Jim Jarmusch, Christopher Nolan, Jonathan Glazer, Jane Campion, Gus van Sant und A.G. Innaritu. Und, er findet Chaplin genauso gut wie Keaton ...