Originaltitel: C.R.A.Z.Y.

Kanada 2005, 127 min
Verleih: Concorde

Genre: Schwul-Lesbisch, Erwachsenwerden, Familiensaga

Darsteller: Marc-André Grondin, Michel Côté

Regie: Jean-Marc Vallée

Kinostart: 25.05.06

Noch keine Bewertung

C.R.A.Z.Y.

Hinreißend, witzig und berührend - Ein Erwachen zwischen Bowie, Cline und Aznavour

Los ging es schon bei seiner Geburt. Am Heiligabend 1960 kam der Knabe auf die Welt, ein Muttermal im Haar und dann ein plötzlicher Sturz aus den Armen des Vaters. Zac, das Baby, überlebt auf dem Krankenhauslinoleum. Seiner Maman ist völlig klar, daß dieser Junge irgendwie die "Gabe" hat, eine Wahrsagerin bestätigt dies. Fortan rufen krankgewordene Verwandte an, damit Zac, das stille halbwüchsige Kind, quasi telepathisch Genesung erwirkt - und sie genesen. Für den Vater und die Geschwister - insgesamt sind es fünf Jungs, weil der vor Freunden protzende Papa ja entsprechend Tinte auf dem Füller hat - ist das alles irgendwie Humbug. Das sehr enge Verhältnis zwischen Vater und Sohn kriegt erste Risse, als dem Jungen eine geliebte Patsy-Cline-Platte zerbricht. Gänzlich verdorben ist es, als das Familienoberhaupt den kleinen Zac in Perlenketten-Lippenstift-Montur in der elterlichen Schlafstube erwischt. Schuld ist natürlich auch die zu sanfte Mutter, die ihm gar einen Puppenwagen schenken wollte. Freude heucheln soll der Kleine dann aber über ein Hockeyspiel.

Den richtigen Knall gibt’s in der Pubertät, wenn Zac, der Teenager, Bowie, Joints und den Aufstand für sich entdeckt, und der Vater seinen Sohn mit einem Mitschüler bei ziemlich eindeutigem Handgemenge im Auto erwischt. Zac, der rebellierende Jungmann, empfindet scheinbar schwul, die Mutter versteht, der Vater rastet aus, sich empörend, wie man denn nur seinen Pinsel zwischen zwei A-Backen stecken könne. Worauf die Mutter lässig entgegnet: "Da hast Du aber ein kurzes Gedächtnis ..." Zac muß raus, weg, er braucht Klarheit, alles verwirrt ihn. Und deshalb wird er eine Reise machen, die ihn an den Ursprung allen Lebens, Liebens und Leidens führen wird. Nach Jerusalem ...

Auch wenn Regisseur Jean-Marc Vallée den Jungen Zachary in den Mittelpunkt seines warmherzigen Films gestellt hat, vernachlässigt er in keinem Moment die anderen Figuren, da sie zu wichtig sind, um unseren Helden zu "formen". Mit entwaffnender Komik läßt er den Vater zu jeder Familienfeier "auf vielfachen Wunsch" immer wieder die schmelzenden Chansons von Charles Aznavour anstimmen, mit Ernst und im Gleichschritt einer familiären Ohnmacht, schickt er Raymond, den ältesten Bruder Zacs, auf eine Reise ohne Ziel.

C.R.A.Z.Y. ist tatsächlich der ganz große Wurf geworden, einer der sich gar nicht so einordnen läßt, weil Familiensaga, Tragikomödie, Geschichte vom Erwachsenwerden und Coming-Out-Wirbelei zwar alles stimmt, aber eben doch nur grobe Aspekte dieses komplexen, fabelhaft erzählten Films sind. Es ist eine bezaubernde Lebensoper geworden, eine aufwühlende, mitreißende und eine auch zu Tränen rührende Arie voll stiller und ausbrechender Töne, die nie in lärmende Dissonanz stürzt - trotz allen Schrägstands im Leben unseres Helden.

Vielmehr hat Vallée ganz präzise beobachtet, wie Menschen so ticken. Um Papa zu gefallen, kaut der ganz junge Zac so energisch Kaugummi wie sein Vater, später betet der Pubertierende ob seiner verwirrenden (sexuellen) Empfindungen "Lieber Gott, alles, aber bitte nicht DAS!" Tatsächlich ist dieser Film wie einer dieser unglaublichen Charles-Aznavour-Titel à la "Hier encore" - bittersüß, ein Flehen an das Leben, ein großes Zittern ob seiner Schatten.

Und am Ende, wenn Vater und Sohn sich in den Armen liegen werden, dann haben sie einander vielleicht verstanden. Dem Aufruf Aznavours in seinem unvergleichbaren Chanson "Emmenez-Moi" hat der Film am aufgelösten Zuschauer dann längst schon Folge geleistet.

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.