Originaltitel: UCHENIK

Rußland 2016, 118 min
FSK 12
Verleih: Neue Visionen

Genre: Satire

Darsteller: Petr Skvortsov, Yuliya Aug, Victoria Isakova

Regie: Kirill Serebrennikov

Kinostart: 02.02.17

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Der die Zeichen liest

Vom Kind zum fanatischen Eiferer

Man kann seine Wut förmlich spüren: Benjamin wirft nicht nur sein Bett, seine Regale, Bücher und Klamotten raus in den Flur der kleinen Wohnung, in der er mit seiner Mutter lebt. Er reißt auch die bunt gemusterten Tapeten von den Wänden, stellt große Bretter vor die Fenster, bis nur noch ein dunkles, verwahrlostes Loch übrigbleibt: Eine Matratze auf dem Boden und die Bibel, mehr braucht er nicht zum Leben.

Es ist ein radikaler Film, mit dem der russische Regisseur Kirill Serebrennikov in Cannes seine Premiere feierte, und der die aktuelle Situation in seinem Land spiegelt: „Obwohl die Kirche vom Staat getrennt ist, ist die orthodoxe Kirche in fast allen Ebenen der Gesellschaft aktiv. Sie diktiert, was richtig ist und was falsch, und sie folgt der offiziellen Ideologie“, sagt Serebrennikov, der seit 2012 der Künstlerische Leiter des Gogol Centers in Moskau ist. Um zu zeigen, wie Religion gedeutet und wie leicht sie mißbraucht werden kann, läßt er seinen Protagonisten die Grenze des Ertragbaren überschreiten. Mädchen in Bikinis, Homosexualität, Ehescheidungen oder die Evolutionstheorie – alles lehnt Benjamin ab und belegt seine Ansicht mit Bibelzitaten, die der Regisseur im Film auch als diese kenntlich macht: „Lieg’ nicht beim Knaben wie beim Weibe, denn es ist ein Greuel.“

Das ist spannend zu sehen und verändert den Blick auf unsere eigene Religion und das Buch der Christen, das sich plötzlich wie ein Aufruf zur Gewalt liest: „Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen. Wie froh wäre ich, es würde schon brennen.“ Benjamin nimmt alles wörtlich und verwandelt sich im Laufe des Films zu einem fanatischen religiösen Eiferer. Dabei ist er im Grunde ein einsamer Jugendlicher, dessen Umfeld es ihm leicht macht, sich zu verlieren: Da ist die alleinerziehende überforderte Mutter, die alle Verantwortung von sich weist. Sie hat die Verbindung zu ihrem Kind längst verloren und die beängstigende Entwicklung Benjamins nun in die Hände der Lehrer gelegt. Die aber verharmlosen Benjamins Verhalten, sogar seine antisemitischen Sprüche. Die Einzige, die Widerstand leistet, ist seine Biologielehrerin Lena. Sie kontert mit Bibelzitaten, geht in die Diskussion und harrt aus bis zum bitteren Ende.

Das ist erschütternd und unbedingt sehenswert und stellt die Frage danach, was mit unseren Kindern passiert, wenn wir ihnen nicht zuhören und sie nicht dabei unterstützen, ihre eigenen Gedanken zu formulieren. Dann kann es durchaus sein, daß sie sich an Schriften bedienen, die vor mehr als 2000 Jahren aktuell gewesen sein sollen.

[ Claudia Euen ]