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Halbe Treppe

Die Flucht des Hans Peter oder Wie eine Einbauküche fast eine Ehe gerettet hätte

"Worauf hatte ich mich bloß eingelassen?" Regisseur Andreas Dresen scheint über seinen Mut, einen Film ganz ohne Drehbuch zu realisieren, immer noch verwundert. Vielleicht, weil er damit etwas Beruhigendes vorläufig aufgegeben hat: die absolute Kontrolle. Über das, was gesprochen wird, über Stimmungen, Abläufe. Er hat die Figuren an seine Darsteller verschenkt, und sie gaben ihm Menschen zurück: Uwe und Ellen Kukowski, Chris und Katrin Düring.

Man hat sich mit Leben und Job arrangiert, kennt sich ewig, trifft sich manchmal. Beide Paare durchleben die verflixteren Jahre ihrer Ehe - Dunstabzugshaube statt Bettgeflüster, Pudding statt Essen bei Kerzenschein. Doch dann wird das erschöpfte Quartett von Klaus Lages Hymne an das Unverhoffte aufgeweckt: "Tausendmal berührt ...". Und es passiert. Radiomoderator Chris landet mit der Frau seines besten Freundes auf dem Autorücksitz, auch mal in einem Hotelbett hinter der polnischen Grenze und schließlich in der heimischen Badewanne. Die Tür geht auf, die Katrin kommt rein - in flagranti in Frankfurt/Oder.

Eine furchtbar normale Geschichte in einer schrecklich normalen Stadt, kaum aufregend, hätte Dresen nicht noch mehr Hauptrollen zu vergeben gehabt: An eine Plattenbausiedlung zum Beispiel, die als Kulisse der Flucht des Wellensittichs Hans Peter zum Sinnbild Kukowskischer Streitkultur im Besonderen und der Sehnsucht nach zweifelhafter Freiheit im Allgemeinen gerät. An einen Kameramann, der allem und jedem so unerbittlich an den Hacken klebt, daß es schon mal zu Kollisionen in der engen Diele kommt. An Uwes Arbeitsplatz, einen Zelt-überdachten Imbiß in der Frankfurter Innenstadt, der diesem Film nicht nur seinen Namen lieh, sondern die gesamte Ausstattung an Tischen, Papptellern, Bratdunst, Biertrinkern und Symbolik auf die Waagschale brachte. Auf halbem Weg - über die Richtung mögen sich Opti- und Pessimisten streiten - ist es halb geschafft, halb versemmelt, halb bitter und halb komisch. Vor allem Letzteres, denn dieses Universum aus scharf beobachteten, dokumentarisch erfaßten Kleinigkeiten wird immer wieder vom Aberwitz gestreift: Eisbeine (das Verzehrgut, nicht die blaugefrorenen Füße) in der Badewanne, Musik aus dem Klobecken, eine seltsam wuchernde Kapelle, Radiohoroskope mit Botschaft. Zwischen diesen Bildern einer an der Absurdität des Alltags geschulten Phantasie hört man Gebrauchsweisheiten vom Schlage des berühmt berüchtigten "In der Ruhe liegt die Kraft", über die man sich kaum zu lachen traut, und zwar vor Scham. Denn was hier über Improvisationen mit holpernden, geschwätzigen, verstockten oder einfach nur pragmatischen Dialogen wie nebenbei erzeugt wurde, ist echt, ist geklaut, und zwar schamlos. Aus meinem Wortschatz, aus Ihrem, dem Ihrer Nachbarn, wenn sie sich unbelauscht fühlen.

Und sollte sich darunter auch ein Satz von Größe und Wahrheit finden - angesichts der neuen Einbauküche wird auch Ellens "Du hast überhaupt nichts verstanden." geerdet. Das große Erstaunen über kleine Enttäuschungen ist die melancholische Melodie unter Dresens treffsicherer Farce. Man summt sie mit, man überlegt, ob ein Motoroller auf die Ladefläche eines PKW-Kombi paßt. Chris und Katrin scheitern an dieser Aufgabe. Ein mutiger Regisseur hat das Unmögliche geschafft und transportiert großes Frachtgut auf kleinstem Raum, als sei es das Leichteste von der Welt.

D 2002, 105 min
Verleih: Delphi

Genre: Tragikomödie, Schräg

Darsteller: Steffi Kühnert, Gabriela Maria Schmeide, Axel Prahl, Thorsten Merten

Regie: Andreas Dresen

Kinostart: 03.10.02

[ Sylvia Görke ]