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Kinder. Wie die Zeit vergeht.

Agonie auf 16mm

Sachsen/Anhalt. Halle-Neustadt. Leunawerke. Die Landschaft dazwischen. Eine Familie, die hier lebt: Jeanette und ihr Mann Guido. Die Kinder. Tommy etwa, der jetzt so alt ist, wie seine Mutter Jeanette es war, als sie ihn bekam. 15 Jahre zuvor, und nicht von Guido. Tommys Bruder Paul, der intelligent genug wäre, aufs Gymnasium zu gehen, sich aber nur auf die Realschule traut. Jeanettes Eltern und ihre vier Brüder. Tino, der jüngste, der schüchtern nach Worten sucht, wenn er erklärt, warum er sich als Nationalsozialist bezeichnet ...

Auf den ersten Blick mutet das alles wie ein weiteres Opus der Kategorie "Im Osten nichts Neues" an. Doch das trügt. Mit KINDER. WIE DIE ZEIT VERGEHT. setzt Dokumentarfilmer Thomas Heise fort, was er mit STAU (1992) und NEUSTADT (1999) begann. Gedreht in Schwarz/Weiß, auf 16mm und DigiBeta - also denkbar kleinem Format - lotet der Kamerablick geduldig das Leben in einer fast schon akkurat grau gemeißelten Tristesse aus. Dabei sind es weniger die gezeigten Menschen und deren Geschichten, als viel mehr eine Meditation über das Vergehen der Zeit, was Heises Film faszinierend macht. Eine Betrachtung, in der Vergeblichkeit, Agonie gar, wie ein bitterer und lockender Zauber lauert. Suggestiv ist das gerade auch deshalb, weil scheinbar lakonisch das Unwirtliche gezeigt wird. Das geht weit über das hinaus, was ein soziales Protokoll gemeinhin vermag. Der ewig graue Himmel, darunter die Neubaublöcke, der kalte Wind, der durch die zerschlagenen Fenster stillgelegter Bahnhöfe heult - Heise fängt so die Zeit selbst ein, die über alles geht. Da schwingt ein stilles Pathos mit - denn tatsächlich ist Heises Film ja, im wahrsten Sinne, schön. Gerade auch, weil er alles herkömmlich Schöne ausklammert.

Daß dann in der Mitte dieser asketischen, stillen Doku plötzlich Musik, nämlich Charles Ives betörendes "Unanswered Question", ertönt (mit dem übrigens einst schon Tom Tykwer LOLA RENNT transzendente Weihen verleihen wollte), unterläuft da emotional sehr effektvoll und aus eben diesem Grund fast zu offensiv, Heises bis dato grandiose Verhaltenheit. Da ist man plötzlich auf eine Art gepackt, wie man es etwa vom Hollywood Melodram alter Schule kennt. Da entpuppt sich Heise, der stille Beobachter, als emotionaler Cineast, der sein Publikum nicht nur fordern, sondern auch verführen kann.

D 2007, 86 min
Verleih: GMfilms

Genre: Dokumentation

Regie: Thomas Heise

Kinostart: 25.09.08

[ Steffen Georgi ] Steffen mag unangefochten seit frühen Kindertagen amerikanische (also echte) Western, das „reine“ Kino eines Anthony Mann, Howard Hawks und John Ford, dessen THE SEARCHERS nicht nur der schönste Western, sondern für ihn vielleicht der schönste Film überhaupt ist. Steffen meint: Die stete Euphorie, etwa bei Melville, Godard, Antonioni oder Cassavetes, Scorsese, Eastwood, Mallick oder Takeshi Kitano, Johnny To, Hou Hsia Hsien ... konnte die alten staubigen Männer nie wirklich aus dem Sattel hauen.