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Mein Herz sieht die Welt schwarz

Die Kamera als Verbündeter

Im Winter sind die Straßen von Kabul nicht nur voller Schnee und Matsch. Es schieben auch viele Männer auf Krücken darin herum, mit nur einem Bein. Solche Straßenszenen haben die Menschen in Europa nach dem Ersten Weltkrieg erschreckt. Doch das ist lange her, und weit weg ist Afghanistan. Die Medienwelt hat sich zudem wie eine Mauer davor aufgetürmt. Hier ist es die Aufgabe des Dokumentarfilms, geduldig hinzuschauen, um zunächst mal eigentlich ganz Selbstverständliches ans Tageslicht zu fördern: Zum Beispiel, daß die Menschen in dieser anarchischen Region nicht nur mit Krieg und Armut kämpfen, sondern zuweilen auch um ihre Liebe.

Die Geschichte von Shaima und Hossein ist im Grunde genommen eine klassische Tragödie. Eine Kindheitsliebe. Zwei, die sich nichts anderes wünschen, als zusammen zu sein. Und zu viel, was dagegen spricht. Hossein ging, kaum erwachsen, aus Armut als Söldner zu den Taliban und kehrte halb querschnittsgelähmt zurück. Shaima hält zu ihm. Doch sie wurde als vierte Ehefrau an einen Mann verkauft, wie es nach Ansicht ihres Vaters der Tradition entspricht. Als der Ehemann nicht zahlte, holte ihr Vater sie und ihr Kind vorläufig zurück. Jetzt kann Shaima wieder zu Hossein. Aber nur heimlich und gegen den Willen von dessen Mutter, die Blutrache fürchtet.

Das Filmteam dringt mitten in eine prekäre Situation. Die Hoffnung ist sehr gering, und doch treffen wir auf das Glück zweier Menschen, die bereit sind, im Moment zu leben oder auch zu sterben. Schwierig für einen Dokumentarfilm, da nichts nach außen dringen soll. Die Kamera bohrt nach und zeigt für Minuten auch mal nur Hosseins verträumte Augen. Und schließlich gelingt es Helga Reidemeister doch noch, aus der privaten Momentaufnahme ein umfassenderes Gesellschaftsbild zu generieren, als es die aktuelle politische Berichterstattung könnte.

Die Situation bringt aber auch mit sich, daß der Dreh selbst zum Thema wird. „Gestern haben sie sogar die Hühner gefilmt“, lautet die humorvollere Variante. Unheimlich wird es, wenn Hosseins Mutter verzweifelt die Stimme senkt und in die Kamera flüstert: „Sie (Shaima) soll verschwinden!“ Oder wenn Shaimas Mutter und Schwestern plötzlich verstummen, als der Hausherr das Wohnzimmer betritt. Betretenes Schweigen – mit Sicherheit auch im Kino. Die Kamera wird zwangsläufig zum Verbündeten.

D/Afghanistan 2009, 87 min
Verleih: Basis

Genre: Dokumentation, Liebe

Regie: Helga Reidemeister

Kinostart: 11.02.10

[ Lars Meyer ] Im Zweifelsfall mag Lars lieber alte Filme. Seine persönlichen Klassiker: Filme von Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Woody Allen, Billy Wilder, Buster Keaton, Sergio Leone und diverse Western. Und zu den „Neuen“ gehören Filme von Kim Ki-Duk, Paul Thomas Anderson, Laurent Cantet, Ulrich Seidl, überhaupt Österreichisches und Skandinavisches, außerdem Dokfilme, die mit Bildern arbeiten statt mit Kommentaren. Filme zwischen den Genres. Und ganz viel mehr ...