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Nachtlärm

Lasset die Kindlein zu sich kommen

Die Nacht beginnt ruhig, quasi auf Zehenspitzen. Ängstlich, daß ein Rascheln des Schlafanzuges die Ruhe stören könnte, bewegen sich Livia und Marco durch ihre Wohnung, als wären sie bei fremden Leuten zu Gast. Denn der Herrscher über dieses Reich des Gehens auf Strümpfen bestraft jedes sich müde Zurücklehnen mit gellendem Greinen. Er ist acht Monate alt, heißt Tim und ist endlich, endlich eingeschlafen. Leider nur, bis der Prinz von irgendeiner Erbse gestört wird und seine elterlichen Bediensteten tun, was sie seit acht Monaten tun: das Kind ins Familienauto packen, losfahren und hoffen, daß des Motors Schlaflied nachhaltige Wirkung entfaltet.

Es wäre keine Nacht für einen Film, würde sie nicht in eine mondbeschienene Ausnahmesituation ausufern. Und es wäre schon gar keine Nacht für das Regie-Drehbuch-Duo Christoph Schaub und Martin Suter, wollte sie nicht Anlaß für launige Betrachtungen zu zeitgenössischen Alltagsmythen im adäquaten Bilderrahmen geben. Eine Unaufmerksamkeit später – wen wundert’s bei der allseitigen Übernächtigung – hat der Wagen die Besitzer gewechselt. Der Kleinkriminelle Jorge und Claire, seine Braut für diese Nacht, steigen an einer Tankstelle vom „geborgten“ Motorrad ins nächstliegende Auto mit steckendem Schlüssel um. Weg ist das Kind, weg ist der nahebei geparkte Luxuswagen, in dem die beklauten Eltern die Verfolgungsjagd aufnehmen, und baff ist der zwielichtige Typ, der seine davonstiebende Edelkarosse wohl soeben zum nächsten illegalen Deal chauffieren wollte. Laßt das Rennen beginnen!

Als wären sämtliche Schlagzeilen der Boulevard- und Elternratgeberliteratur verschmolzen, verpacken Schaub und Suter den kokett-augenzwinkernden Zusammenstoß von enervierender Reflexionskultur der mitteleuropäischen Einkindfamilie mit den unflätigen Gesprächsgewohnheiten der Halbwelt, natürlich mit Fokus auf das Frustrationspotential von Beziehungen hier wie dort, in ein Roadmovie mit gesellschaftsanalytischem Anspruch. Seit GIULIAS VERSCHWINDEN versuchen sich die beiden als Traumpaar der gehobenen deutschsprachigen Komödie, damals wie jetzt mit Schwächen in der Dialog- und Figurengestaltung. Die allerdings werden immer wieder durch überragende Schauspieler, hier etwa durch den Wiener Georg Friedrich, wettgemacht. Dennoch: Eine Pistole, eine Handvoll Euros, ein Päckchen Windeln, ein gegen alle Lärm- und Nervenschutzverordnungen verstoßendes Baby und nicht zuletzt ein Reizdarm lassen dieses Nachtstück Speed aufnehmen – und seinen unklaren Milieus und gesichtslosen Topographien einfach davonfahren.

CH/D 2012, 90 min
FSK 12
Verleih: X Verleih

Genre: Roadmovie, Schräg

Darsteller: Alexandra Maria Lara, Sebastian Blomberg, Carol Schuler, Georg Friedrich

Stab:
Regie: Christoph Schaub
Drehbuch: Martin Suter

Kinostart: 23.08.12

[ Sylvia Görke ]