Originaltitel: RICKY

F 2009, 90 min
FSK 6
Verleih: Concorde

Genre: Drama, Fantasy, Liebe

Darsteller: Alexandra Lamy, Sergi Lopez, Arthur Peyret

Stab:
Regie: François Ozon
Drehbuch: François Ozon

Kinostart: 14.05.09

53 Bewertungen

Ricky

François Ozon überrascht einmal mehr – mit einem augenzwinkernden und ergreifenden Appell an das Wundersame

Was tut der Mensch, wenn er von einer tiefen Melancholie heimgesucht wird? Er sehnt sich nach Veränderung. Er bricht zu neuen Ufern auf. Er verliebt sich neu. Er zeugt ein Kind. Oder er träumt von all dem ... Es gibt viele Lesarten von François Ozons neuestem Film – eines seiner faszinierendsten Werke, auch weil er sich mal wieder nicht um Kritiker- oder Publikumserwartungen schert, er bereichert mit seiner – sagen wir mal leicht – derangierten Familiensaga den Ozonschen Kosmos, der bereits von allerhand liebevollen, schrägen und einzigartigen Figuren bevölkert ist. Da fragt Ozon auch diesmal nicht, ob man das darf, ob man dies so tut, ob man das glauben kann, was er da fabuliert. Er kommt einzig seiner Pflicht nach, ungewöhnliche Geschichten gekonnt zu erzählen. Diesmal verwebt er zudem Genres, vielmehr Ingredienzen aus Sozialdrama, Fantasy-Kino, Liebesfilm, und selbst Anleihen beim Tierhorror sind auszumachen. RICKY ist ein Spagat, ein bisher als nicht machbar gedachter Drahtseilakt zwischen den Dardenne-Brüdern, Cronenberg und Stan Winston.

Katie ist melancholisch. Der Plattenbau-Tristesse müssen Farben entgegengesetzt werden, das notwendige Tupferl heißt Paco. Ein Blick, eine Zigarette, ein Fick später, und das Leben geht weiter, aber anders als zuvor. Es passiert wieder etwas in dieser Monotonie aus dem alltäglichen Tochter-zur-Schule-bringen, der Schuf­terei, dem Ärger über Schmierereien in einem der vier brav aufgestellten Wohnsilos. Paco ist Spanier, ein bäriger Typ, von oben bis unten beharrt, ein Kerl, der zupacken kann, der aber auch mal nach links und rechts blickt, wenn dort andere Frauen stehen. Und da Ozon schon immer ein gnadenloser Effizient ist, fackelt er nicht lange, läßt Katie nach dem ersten Sex sofort schwanger werden, für den Ort der Zeugung sucht er auch kaum den Gral der Prekariatsromantik – nicht das Klappbett in der Neubauwohnung, sondern das Werksklo muß reichen. Alles denkbar günstige Vorzeichen für ein ungewöhnliches Kind.

Genau das ist er, dieser kleine Wonneproppen, Ricky, 3.800 Gramm schwer und tränenstark. Denn der Kleine weint und weint und weint. Vor allem wenn er auf dem Rücken liegt. Eines Tages entdeckt Katie auf der zarten Hinterseite zwei Hämatomen ähnliche Veränderungen. Paco muß grob gewesen sein, Anschuldigungen, fliegende Türen, Katie ist wieder allein. Mit dem etwas vernachlässigten Töchterchen Lisa und dem kleinen Ricky, der sich täglich verändert, aber anders als eine liebende Mutter es erwartet. Ihm wachsen Flügel! Ein angewiderter Blick von Mama und eine hilflose Tesafilm-Flügel-Anklebeszene später – und es kommt so etwas wie stilles Glück in die kleine Familie. Da werden Schutzhelm und Wattejacke gekauft, kleine Löcher ins Rückenteil des Pullovers geschnippelt, und Ricky darf fliegen. In 2,60-m-Deckenhöhe grad noch machbar.

Und da Ozon – zwar ein Ironiker – auch manchmal ein an der Gutartigkeit der Menschen Zweifelnder ist, läßt er sich zu einem E.T.-Moment hinreißen, als Katie ihrer Tochter anrät, niemandem von diesem Wunder zu erzählen: „Weil man Ricky weh tun würde?“ – „Weil er anders ist.“ Genau das steht im Mittelpunkt dieser hinreißenden Geschichte. Wie ist das so, mit einem ungewöhnlichen Geschöpf, dem man all seine Liebe anträgt, zusammenzuleben, wie schützt man seinen kleinen Mietskasernen-Biotop vor der brutalen Welt und der neugierigen Meute? Ozons märchenhaft-humaner Fokus verliert sich keinen Moment, denn er zeigt zwar die sensationsgierigen Journalisten – natürlich erfährt die Außenwelt alsbald von Ricky – aber er holt nicht aus zur Medienschelte. Ozon ist kein Ankläger, eher augenzwinkernder Verfechter unebener Lebenswege. Für Rickys Erstkontakt zur Außenwelt fiel ihm eine wunderbare, alberne und dabei zu Herzen gehende Supermarktszene ein, die man gesehen haben muß! Und da der geneigte Zuschauer Ozons Unberechenbarkeit so liebt, fragt man sich auf dem Zenit der Geschichte, wie kommt man denn da nun wieder raus? Nur so viel: Freie Wildbahn für den süßen Fratz ...

Im Sonnenlicht wagt die Familie einen Neuanfang, der Fortsetzung oder den ersten Schritt bedeuten kann, Erwachen oder Weiterträumen, einen schweren Verlust verarbeiten oder einfach raus aus der Melancholie. Wie gesagt, es gibt einige Lesarten dieser Geschichte. Dabei ist nur eins wichtig, daß es Ricky gut geht, weil er jetzt woanders lebt. Flieg, kleiner Ricky, flieg ...

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.