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Tokyo Godfathers

Meisterhaft animiertes Großstadtmärchen

Im Vordergrund agieren drei Obdachlose: der alte Säufer und ehemalige Radprofi Gin, die jugendliche Ausreißerin Miyuki sowie Hana, eine schon etwas abgehalfterte Drag-Queen. Die drei finden am Heiligen Abend ein ausgesetztes Baby, was bei Hana sofort Mutterinstinkte weckt und auch den Rest der Behelfsfamilie nicht kalt läßt. Hana will das Kind - Wunder und göttliche Gabe zugleich - zunächst für sich behalten, schließlich machen sich die drei aber doch auf die Suche nach den Eltern. Diese gestaltet sich zu einem Trip durch Tokios Unterwelt, in dessen Verlauf auch die Lebens- und Familiengeschichten der drei Außenseiter in einem anderen Licht erscheinen.

Regisseur Satoshi Kon (MILLENIUM ACTRESS), der zu den wichtigsten Animationsfilmkünstlern Japans zählt, arbeitet mehrdimensional. So spielen sich im Bildhintergrund seines Films eine Vielzahl weiterer Geschichten ab. Das eigentliche Thema aber ist die Großstadt selbst. Das Tokio Satoshi Kons ist ein vornehmlich nächtliches, ein in blaues Licht getauchter, einsamer und auch bedrohlicher Ort, wo winterliche auf soziale Kälte trifft, und allein der Zusammenhalt des ungewöhnlichen Trios die Existenz von Wärme erahnen läßt. Das Drehbuch bietet allerhand Widrigkeiten, die von glücklichen Zufällen abgelöst werden, was die Odyssee von Gin, Miyuki und Hana fast atemlos gestaltet und den Zuschauer geschickt von Schauplatz zu Schauplatz dirigiert. Müllberge, triste Hinterhöfe, ein stiller Friedhof im Schnee, eine prächtige Yakuza-Villa und Hanas ehemaliger Club, der nur noch in vergangenem Glanz strahlt - solcherart sind die Facetten, mit denen Satoshi Kon die Metropole detailfreudig und bildgewaltig zugleich porträtiert. Dort wo die drei stinkenden und zerlumpten Gestalten auf die konforme, angepaßte Gesellschaft treffen und sich diese von ihrem selbst kreierten Elend abwendet, hat der Film starke Momente auch jenseits schrägen Humors.

So macht die von den Figuren empfundene Scham über den Versuch der anderen Fahrgäste, in einem vollgestopften Zug von ihnen abzurücken, beinahe vergessen, daß die Szene ihre Herkunft einer Zeichenfeder verdankt. Andere, wie das unglückliche Aufeinandertreffen des betrunkenen Gin mit einer Bande jugendlicher "Aufräumer", lassen nichts zu deuten übrig: TOKYO GODFATHERS - im Übrigen tatsächlich auch eine Variante der bereits mehrfach verfilmten Novelle "Three Godfathers" - ist weit mehr als ein verspätetes Weihnachtsmärchen.

Originaltitel: TOKYO GODFATHERS

J 2003, 90 min
Verleih: Kairos

Genre: Animation, Schräg, Western

Darsteller: Toru Emori, Yoshiaki Umegaki, Aya Okamoto

Regie: Satoshi Kon

Kinostart: 09.02.06

[ Jane Wegewitz ] Für Jane ist das Kino ein Ort der Ideen, ein Haus der Filmkunst, die in „Licht-Schrift“ von solchen schreibt. Früh lehrten sie dies Arbeiten von Georges Méliès, Friedrich W. Murnau, Marcel Duchamp und Man Ray, Henri-Georges Clouzot, Jean-Luc Godard, Sidney Lumet, Andrei A. Tarkowski, Ingmar Bergman, Sergio Leone, Rainer W. Fassbinder, Margarethe v. Trotta, Aki Kaurismäki und Helke Misselwitz. Letzte nachhaltige Kinoerlebnisse verdankt Jane Gus Van Sant, Jim Jarmusch, Jeff Nichols, Ulrich Seidl, James Benning, Béla Tarr, Volker Koepp, Hubert Sauper, Nikolaus Geyrhalter, Thierry Michel, Christian Petzold und Kim Ki-duk.