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Und wenn wir alle zusammenziehen?

Dann wird daraus ein Wunderwerk für Herz und Geist!

Einleitender Erinnerungsausflug: Der Autor vorliegender Zeilen genoß einst abends im Kino SWIMMING POOL von François Ozon und sah gegen Ende hingerissen zu, wie die Kamera Charlotte Ramplings Nacktheit einfing, ihre reife Schönheit. Zwei aufgetakelte Teenie-Schnallen einige Reihen dahinter fühlten sich vom Gezeigten allerdings ästhetisch attackiert und muhten Attribute wie „abartig, widerlich, häßlich“ in den Saal. Wer nun ebenso dem hohläugigen Jugendwahn verfiel, jedes graue Haar einzeln nachfärbt und Botoxmasken à la Nicole Kidman zum Schönheitsideal erhebt, der mache in beiderseitigem Interesse einen Bogen um diesen einzigartigen Film.

Denn hier dominieren ausdrucksstarke, faltige Gesichter, aus denen Erfahrung und Weisheit sprechen. Um genau zu sein, derer fünf – so viele Freunde im Herbst bis Winter des Lebens sind einander eng verbunden. Da wäre Jeanne im Körper Jane Fondas: Sie ist krank und sucht heimlich nach einem Sarg. Fröhlich soll er wirken, nichts liegt der nüchternen Natur ferner als eine deprimierende Trauerfeier, vielmehr werden Vorkehrungen getroffen, damit es die Lieben beim Grabbesuch nett haben, und zwar langfristig. Sorge bereitet Jeanne indes, was mit Albert, ihrem Gatten, geschehen wird: Seine Demenz schreitet rasend schnell fort, wie kann er die Existenz ohne sie meistern?

Das Problem klärt sich auf Umwegen, als Claude nach einer Herzattacke ins Krankenhaus kommt – die letzte Prostituierte hat den Single eventuell doch überfordert. Da beschließt Jean, Ex-Straßenkämpfer und weiterhin politisch aktiv, den Kameraden bei sich aufzunehmen, das Haus ist groß genug, außerdem mag Ehefrau Annie neben den üblichen Zoffs vermutlich Abwechslung vertragen. So geschieht es. Bis unvermittelt eine Idee keimt, welche der Titel formuliert: Man schreitet zur Fünfer-WG-Gründung!

Ausgehend von dieser Exposition beweist Regisseur und Drehbuchautor Stéphane Robelin, daß großartiges Kino eben auch fern ausgeklügelt konstruierter Handlung funktionieren kann. Er fügt schlicht Situationen zusammen, tupft Szenen hinzu und findet darin allerhand wahrlich magische Momente – etwa dann, wenn Geraldine Chaplin zur Vorbereitung auf den Versöhnungssex mit ihrem Filmmann das Haar löst. Ruhig, etwas resigniert, müde von den ewigen Auseinandersetzungen vielleicht. Klar, beide sind zusammen alt geworden. Aber reicht das?

Jeanne dagegen verzweifelt nicht am Gesundheitszustand, sondern posiert schon mal für Fotos und gesteht freimütig, häufig zu masturbieren. Da entgleist wohl nicht bloß dem als jugendlichen Gegenpart eingeführten Studenten Dirk, an seiner Doktorarbeit schreibend und im Kreis der Freunde Feldstudien betreibend, das Gesicht. Traurig eigentlich, weil es keine Frage oder gar gebrochenes Tabu sein dürfte, was Robelin hier im Zuge einer trotz nach 40 langen Jahren gelüfteter Geheimnisse und aufbrechender Wunden luftig-leichten, vor allem das Leben feiernden Inszenierung seinen Figuren immer wieder zusichert: Ja, Alter und Erotik schließen einander keinesfalls aus. Daß Analoges für Selbstbestimmung gilt, flicht Robelin durch Claudes verknöcherten Sohn ein, welcher Papa aus Gründen der Einfachheit nur zu gern ins Pflegeheim abschieben will.

So reihen sich deutlich formulierte Konflikte an fast verborgene Emotionen, Chaos an Stille und Humor an Tragik, getragen von einem Gute-Laune-Soundtrack sowie wundervollen Darstellern, bei denen jedes winzige Mienenspiel, jede zurückhaltende Geste echt wirkt, denen man darum stundenlang zuschauen möchte.

Daß Jeanne es gewohnt pragmatisch schafft, Dirk einen Freundschaftsdienst in Sachen Zwischenmenschlichkeit zu erweisen, dient als bezaubernde Vorbereitung für die folgende Schlußszene, welche – ohne Tränendrüsenklischees, dafür voller Herzblut – bereits jetzt zu den ergreifendsten des Kinos anno 2012 zählen dürfte. Unvermittelt, unter Verzicht auf Tamtam, wie alles begann, endet es. Und läßt hier und dort feuchte Augen zurück, derer man sich nicht schämen muß.

Originaltitel: ET SI ON VIVAIT TOUS ENSEMBLE?

F/D 2011, 96 min
FSK 6
Verleih: Pandora

Genre: Tragikomödie, Poesie

Darsteller: Geraldine Chaplin, Jane Fonda, Pierre Richard, Daniel Brühl, Claude Rich

Stab:
Regie: Stéphane Robelin
Drehbuch: Stéphane Robelin

Kinostart: 05.04.12

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...