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Wild

Lappjagd in Halle Neustadt oder Ein Glücksfall für das deutsche Kino

Manchmal passiert wirklich alles zum genau richtigen Zeitpunkt! Im besten Fall dann, wenn einem die pure Alltagsödnis derart in die Glieder fährt, daß man einfach nur raus muß – aus diesem Kackplattenbau, aus diesem stupiden Job, aus diesem mausgrauen Leben. Oder wenn man mal wieder am deutschen Betröppelheitskino zweifelt, an diesem so oft nicht verständlichen Matsch aus introspektiver Duselei und Möchtegernhipness. Und dann kommt urplötzlich Nicolette Krebitz mit WILD um die Ecke – manchmal geschieht eben wirklich alles zum genau richtigen Zeitpunkt!

Deswegen mußte Ania ihm jetzt begegnen, deswegen war irgendwie alles vom ersten Blick an klar: Die Zwei gehören zusammen. Das Mädchen und der Wolf. Der einfach so dastand in einem Witz von Park, zwischen einer Handvoll Bäumen, ein paar Sträuchern, einfach so. Es ist der perfekte Zeitpunkt für Ania, auch wenn man sich den Moment des Verliebens ja nicht aussuchen kann, aber gerade jetzt, wo ihr das despotische Kaffeeeinfordern des Chefs auf die Eier geht, das Gegaffe der Mitarbeiter sowieso, eben jetzt, wo sie doch zutiefst angewidert ist vom versoffenen Antanzen aufgegeilter Kollegen bei Betriebsfeiern, wo sie trauert um ihren sterbenden Großvater, wohl der einzige Mensch, den sie wirklich noch liebt, genau jetzt macht sie diese Begegnung und darf und will und kann nicht vergessen. Weswegen sie den Wolf nach literarisch verbriefter Anleitung in einer nicht ohne Witz inszenierten Lappjagd einfängt, in ihre Plattenbude schleppt, Steaks kauft, ein Loch in die Wand zur Beobachtung hämmert und die Kraft des Tieres unterschätzt. Weswegen es zwischen beiden schon bald keine trennende Wand mehr gibt. Räumlich und metaphorisch sowieso, und am wichtigsten – emotional.

Sicher, nicht wenige werden abwinken: Verliebt in einen Wolf? Alles klar! Das wird auch Krebitz bewußt gewesen sein, was sie aber nicht von der Spur holte, und dieser Konsequenz ist eines der interessantesten Stücke deutschen Kinos der letzten Jahre zu verdanken. Endlich traut sich eine mal was, mit einer Geschichte, die noch nicht tausendfach erzählt wurde, mit einer Paareskonstellation, die – pardon – haarig ist, mit Grenzüberschreitungen, was die Zuneigung zwischen Mensch und Tier angeht, die am bürgertümlichen Kinogeschmack schmerzlich rühren, und allein darauf ein feuriges: Heureka!

Das Zwingende an diesem Film ist jedoch nicht unbedingt die Provokation, die von Krebitz durchaus gewollt ist und dem Film die exotischsten Bilder liefert. Nein, Krebitz gelingt es mit dieser Amour sauvage, von einer tiefen Sehnsucht nach Liebe, Leben und Gesehenwerden zu erzählen, von einem Bruch mit dem Normativen. Nur weg von dieser ferngesteuerten Meute, die sich selbstbesoffen hinter ihren Macs verschanzt! WILD ist die beeindruckende Spiegelung einer Seele, die schon schwer an Trauer, Einsamkeit und einer ewig oszillierenden Fremdheit laboriert. Es ist ein großes Versprechen, klar, in dieser Verschworenheit auch ein irgendwie knisternd erotisches, wenn Ania dem Wolf ins Ohr flüstert: „Bald gehen wir hier weg!“ Dieses Mädchen wagt etwas, es lebt und spürt noch, somit taugt Krebitz’ Film auch als Attacke auf den modernen Stumpfsinn.

Natürlich trägt sich eine gewiß auch schräge Geschichte wie diese nur mit einer Hauptdarstellerin wie Lilith Stangenberg. Sie haut einen schlicht um, wenn sie Ania in all ihrer Weltabgewandtheit zu einem Menschen voller Kampfesgeist macht, dem plötzlich was Richtiges gelingt, sie verströmt ein gehöriges Maß an Anarchie, wenn der Glanz in die Augen zurückkehrt, und wenn sie ein äußerlich verwahrlosendes Mädchen durchaus schön werden läßt.

Und da sind wir wieder dort, wo alles seinen perfekten Zeitpunkt bekommt: Nicolette Krebitz erzählt in WILD geradezu tänzerisch von Neubeginn und Verrohung, sie erzählt davon in eigenwilliger Schönheit, gespickt mit ein paar Deftigkeiten, und sie setzt eben den Schlußakkord perfekt und unmißverständlich: Freiheit! Was wiederum nicht allen klar sein wird, aus traurigem Grund.

D 2015, 97 min
FSK 16
Verleih: NFP

Genre: Drama, Schräg

Darsteller: Lilith Stangenberg, Georg Friedrich, Saskia Rosendahl

Stab:
Regie: Nicolette Krebitz
Drehbuch: Nicolette Krebitz

Kinostart: 14.04.16

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.