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Freischwimmer

Ein morbides Kleinstadt-Märchen

Wo sind Abgründe beschaulicher als in einer deutschen Kleinstadt am Rande des Waldes? Nicht lang muß sich der Zuschauer fragen, warum Andreas Kleinert gerade einen solchen Schauplatz für seine Geschichte wählte. Überschaubar sind Ort und Anzahl der Protagonisten, undurchschaubar, aber zufrieden erweist sich das Leben im Sumpf. Und ein paar Leichen können den satten Überdruß nicht aus den Angeln heben. In Kleinerts Örtchen muß sich der 15jährige Gymnasiast Rico mit seiner Außenseiterrolle herumschlagen. Er hört schwer - was immerhin den Vorteil mit sich bringt, daß er sein Hörgerät ausschalten kann, um zu entspannen.

Außerdem ist er eine Niete im Sport. Er hat seinen Vater verloren, und seine Mutter turtelt mit dem verhaßten Sportlehrer. Ein Lichtblick aber ist die Verehrung des schönsten Mädchens der Schule, Regine. Sein Rivale, der grobschlächtige, aber gut gebaute und sportive Robert, stirbt eines plötzlichen Todes ob eines vergifteten Gebäcks, was Ricos Chancen bei Regine erhöht. Doch wer hat Robert umgebracht? Als sich erweist, daß die Süßigkeit eigentlich Rico galt, schlagen die Wellen nicht gerade höher, doch immerhin wird dadurch Ricos Verhältnis zum Deutschlehrer Wegner inniger, und bald verbindet beide ein gemeines und nicht unbedingt gewöhnliches Hobby É

Die zuweilen nahezu surreal inszenierte Kulisse der Kleinstadt funktioniert Kleinert spielerisch in den Mikrokosmos einer Gesellschaft um, die gemächlich und ohne Erregung auf den Abgrund zusteuert und dabei an der Fiktion einer heilen Welt festhält. Seine Geschichte hält überraschende Wendungen parat, die den Zuschauer in Spannung halten und jede Identifikation mit einer Figur verwehren. Die Charaktere machen kaum eine Entwicklung durch, doch kann dies durchaus intendiert sein. Wesentlich nämlich ist das wachsende Mißtrauen beim Zuschauer, vom Darstellerteam adäquat umgesetzt.

Das überraschend morbide Geschehen vollzieht sich von bitterem Humor begleitet, der sich im nahezu voyeuristischen Blick des Teenagers Rico, so zum Beispiel auf die Darbietung einer Synchron-Schwimmgruppe, manifestiert sowie in der Handlungsunfähigkeit mancher Figuren oder - fast beiläufig - im Hintergrundgeschehen. So probt der Schulchor über die Dauer des Films das immergleiche Lied: "Die Gedanken sind frei". Auch wenn sich hier einige Figuren scheinbar freischwimmen, auch am Ende des Films ist dies kaum zu glauben.

D 2007, 110 min
Verleih: Novapool

Genre: Drama, Erwachsenwerden

Darsteller: Frederick Lau, August Diehl, Fritzi Haberlandt, Alice Dwyer, Dagmar Manzel, Devid Striesow, Jürgen Tarrach

Regie: Andreas Kleinert

Kinostart: 26.06.08

[ Jane Wegewitz ] Für Jane ist das Kino ein Ort der Ideen, ein Haus der Filmkunst, die in „Licht-Schrift“ von solchen schreibt. Früh lehrten sie dies Arbeiten von Georges Méliès, Friedrich W. Murnau, Marcel Duchamp und Man Ray, Henri-Georges Clouzot, Jean-Luc Godard, Sidney Lumet, Andrei A. Tarkowski, Ingmar Bergman, Sergio Leone, Rainer W. Fassbinder, Margarethe v. Trotta, Aki Kaurismäki und Helke Misselwitz. Letzte nachhaltige Kinoerlebnisse verdankt Jane Gus Van Sant, Jim Jarmusch, Jeff Nichols, Ulrich Seidl, James Benning, Béla Tarr, Volker Koepp, Hubert Sauper, Nikolaus Geyrhalter, Thierry Michel, Christian Petzold und Kim Ki-duk.