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Gebürtig

Die unerträgliche Leichtigkeit der Gegenwart

Wenn Kabarettist Daniel Demant von Wien als der "einstigen Welthauptstadt des Antisemitismus, jetzt Hauptstadt des Vergessens" textet, spricht er jedenfalls nicht für sich. Wie sollte er vergessen, daß sein Vater in Auschwitz umkam? Kurzerhand läßt er sich als Häftlingsdarsteller in einem amerikanischen KZ-Film engagieren. Auch den Journalisten Konrad Sachs hält die Vergangenheit mit eiserner Hand umschlossen, jedoch auf andere Weise: sein Vater gehörte zu den Tätern. Seine Kollegin Susanne wiederum sucht für ihren Vater Gerechtigkeit im Gerichtssaal.

Sie alle sowie weitere Protagonisten dieses Reigens können und wollen nicht vergessen. Außer einem: Hermann Gebirtig, KZ-Überlebender. Beharrlich weigert sich der kratzbürstige Erfolgskomponist, den Soundtrack zu Auschwitz zu schreiben oder vor Gericht auszusagen. Mit Blick auf Manhattan seine Musicals komponieren, mit polnischen Jüdinnen schlafen, ist alles, was er will. Und Gerechtigkeit gibt es sowieso nicht.

GEBÜRTIG, nach dem preisgekrönten Roman von Robert Schindel, ist die Geschichte der Nachgeborenen, der zweiten Generation, eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in der Gegenwart, das heißt im Wien der 80er Jahre. Die literarische Herkunft bleibt allzu deutlich: Daniels Erzählstimme heftet sich an die Fersen der Figuren und beschreibt ihre Gefühle in suggestiven Sätzen wie: "Die Kindheit liegt ihm wie eine tote Ratte im Mund." Doch dieses Hilfsmittel reicht nicht aus, wenn es darum geht, die Entwicklung der Figuren zu verdeutlichen. Die umgeben sich mit einem Mantel des Leidens, aus Zynismus und spitzfindigen Reden. Allesamt geistreiche Zeitgenossen sind sie eigentlich immer schon klüger als sie selbst. Sie wissen, daß sie einen gemeinsamen Weg in die Zukunft finden müssen, ohne Vergessen.

Um Leichtigkeit und Humor bemüht, scheint der Film einen solchen Weg einschlagen zu wollen. Doch auch dieser Versuch versickert auf der Figurenebene, in der Selbstironie der Helden. Drum herum bleierne Schwere. So bleibt als einzig interessante Figur eigentlich nur Gebirtig. Er legt den weitesten Weg zurück nach Wien, in eine Kindheit, die er bereits abgelegt zu haben glaubte. Interessant wird es außerdem immer dann, wenn der Film ganz direkt die Darstellbarkeit der NS-Zeit zum Thema macht, als Film im Film. Ein Blick auf die KZ-Film-Ästhetik sagt jedenfalls mehr über das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit aus als das geschliffene Pathos der Protagonisten.

Österreich/D/Polen 2002, 111 min
Verleih: Real Fiction

Genre: Drama, Literaturverfilmung

Darsteller: Peter Simonischek, Ruth Rieser, August Zirner, Daniel Olbrychski

Regie: Lukas Stepanik, Robert Schindel

Kinostart: 13.05.04

[ Lars Meyer ] Im Zweifelsfall mag Lars lieber alte Filme. Seine persönlichen Klassiker: Filme von Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Woody Allen, Billy Wilder, Buster Keaton, Sergio Leone und diverse Western. Und zu den „Neuen“ gehören Filme von Kim Ki-Duk, Paul Thomas Anderson, Laurent Cantet, Ulrich Seidl, überhaupt Österreichisches und Skandinavisches, außerdem Dokfilme, die mit Bildern arbeiten statt mit Kommentaren. Filme zwischen den Genres. Und ganz viel mehr ...