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Geh und lebe

Ein richtiges Leben im falschen

Wer sich in Radu Mihaileanus ZUG DES LEBENS setzte, gelangte auf phantastischen Umwegen an einen Symbol gewordenen Ort des Grauens, auch zu einem der erschütterndsten Schlußbilder überhaupt. Seinem großen Thema, das der verdrehten Identität und ihrer äußeren Bedingungen, ist Mihaileanu auch diesmal treu geblieben, wenn er sich hier auch ganz anderer Mittel bedient, als in seinem wahnwitzigen Rettungsmanöver für ein jüdisches Schtetl.

Hintergrund ist eine Aktion des israelischen Geheimdienstes, der Mitte der 80er Jahre die Falashas "zurück" ins gelobte Land holte. Die jüdischen Äthiopier warteten mit Afrikanern aller Konfessionen in sudanesischen Flüchtlingslagern auf Rettung vor Hunger und Durst. Von oben zoomt sich die Kamera in die trostlose Zeltstadt, mitten hinein in den verzweifelten Abschied zwischen einer Mutter und ihrem neunjährigen Sohn: "Geh, lebe und werde" gibt ihm die Christin mit auf den Weg in das fremde Land Israel, das er an der Hand einer fremden Frau und mit falscher jüdischer Identität betreten wird.

Über rund fünfzehn Jahre folgt Mihaileanu dem Jungen, der sich nun Schlomo nennt - durch das schwierige Vertrautwerden mit einer neuen Familie und einer neuen Kultur, durch Demütigungen und subtilen Rassismus, durch das Heranwachsen zum jungen Mann, zum Ehemann, das immer vom Geheimnis seiner Herkunft überschattet bleibt. Ganz sicher erfüllt der Regisseur damit elementare Sehnsüchte des Publikums, vor allem jene nach den großen Geschichten, die politische Relevanz mit emotionaler Kraft verknüpfen.

Doch das episch angelegte Drama einer verleugneten Identität trägt bisweilen schwer an seinen gewaltigen Zeitsprüngen. Seltsam unverbunden bleiben manche Episoden, zu wenig Spielraum auch für Haupt- und Nebencharaktere, um sich glaubwürdig zu entwickeln - innen und außen. Überzeugend ist Mihaileanu dort, wo er dem Großen das Kleine vorzieht. In einem wunderbar dialektischen Vortrag über die Farbe Gottes zum Beispiel, bei dem Schlomo auf logischem Wege zu ungewöhnlichen Ergebnissen kommt. Nicht zuletzt auch in einfachen und unmittelbar aussagekräftigen Bildern wie dem des schreienden Jungen unter einer Dusche. Nicht vor dem Gas eines Vernichtungslagers zittert er, sondern weil das kostbare Wasser im Abfluß zu verschwinden droht - andere Erfahrungen machen andere Ängste.

Originaltitel: VA, VIS ET DEVIENS

F 2004, 144 min
Verleih: Delphi

Genre: Drama, Erwachsenwerden

Darsteller: Yaël Abecassis, Roschdy Zem, Moshe Agazai, Mosche Abebe, Sirak M. Sabahat

Stab:
Regie: Radu Mihaileanu
Drehbuch: Radu Mihaileanu

Kinostart: 06.04.06

[ Sylvia Görke ]