Originaltitel: AMMONITE

GB 2020, 118 min
FSK 12
Verleih: Tobis

Genre: Drama, Biographie, Schwul-Lesbisch

Darsteller: Kate Winslet, Saoirse Ronan, Gemma Jones, James McArdle

Regie: Francis Lee

Kinostart: 04.11.21

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Ammonite

Gefühl aus Stein geholt

Vier Wochen, vielleicht fünf. Höchstens sechs. Der einzige Mann in AMMONITE ist noch nicht recht angekommen, schon fällt er heraus. Roderick Murchison läßt seine Ehefrau Charlotte in Lyme zurück, auf daß sie sich an der Südwestküste Englands erholen möge. Von einer „leichten Melancholie“, sagt der betuchte Gatte despektierlich. Charlotte aber ist schweren Mutes, körperlich fragil, depressiv. Die verordneten Bäder im Meer werden ihr mehr schaden als nützen.

Mehr nützen als schaden wird dem Geologen Murchison die Begegnung mit Mary, die Grund für die Reise war. Er nennt sie „Vorsitzende Göttin von Lyme“, denn die unstudierte Wissenschaftlerin forscht an Fossilien, die sie, wie schon ihr Vater, am „Jurassic Coast“ betitelten Strand sucht, birgt und aufbereitet. Bedeutende Funde waren schon dabei, Skelette von Fisch- und Flugsauriern, doch Mary Anning hat sich zurückgezogen, nachdem für sie in der männlichen Domäne der Wissenschaft kein Platz war – damals im frühen 19. Jahrhundert.

Vier Wochen, vielleicht fünf. Höchstens sechs. Diese Zeit ist für Mary und Charlotte eine besondere. So, als sei es ein Wink des Unaufhaltsamen, wird Mary, die neben ihrer störrischen Mutter selbst schon ein wenig zu Stein geworden ist, durch verborgene Gefühle erschüttert. Daß da mal was geschah im Ort, das unausgesprochen, nur angedeutet bleibt, hat Mary wohl zusätzlich das Lächeln aus dem Gesicht getrieben. Jetzt aber, da ihr diese zerbrechliche schöne junge Frau zur Obhut übergeben wurde, ein Angebot, das sie nicht wollte, aufgrund finanzieller Engpässe aber annehmen mußte, kehren Emotionen zurück, gepaart mit Charlottes neuer Lebensenergie. Erst wehrt sich Mary. Bewußtlos, sagt sie schroff, sei ihr Charlotte lieber gewesen, nun frage sie zu viel. Doch es sind die letzten Barrieren. Gegen die Freude des Moments und die Sinnlichkeit, die ihren Alltag unterminieren werden, kommt kein Fossil dieser Welt an.

Der britische Regisseur Francis Lee spielt akustisch und visuell auf höchst deliziöse Weise mit Gegensätzen. Landschaften & Gesichter, Blicke & Berührungen, Innen & Außen, echtes Leben (Mary Anning gab es) & Fiktion (die Beziehung zu Charlotte ist erdacht). Das säubernde Kratzen am Stein, fließend hin zum fiebrigen Berühren ihrer zutiefst menschlichen Haut, spielen Kate Winslet und Saoirse Ronan mit frappierender, furchtlos offener Intensität.

[ Andreas Körner ]