Originaltitel: ANEMONE

GB/USA 2025, 126 min
FSK 12
Verleih: Universal

Genre: Drama

Darsteller: Daniel Day-Lewis, Sean Bean, Samuel Bottomley, Samantha Morton

Regie: Ronan Day-Lewis

Kinostart: 27.11.25

3 Bewertungen

Anemone

Von janusköpfiger Bruderliebe

Ein kleiner Schock war´s schon, als vor acht Jahren Daniel Day-Lewis mal einfach so seinen Abschied von der Schauspielerei nahm. Gerade hatte er doch noch in Paul Thomas Andersons DER SEIDENE FADEN vorgeführt, warum er gemeinhin als der „weltbeste Schauspieler seiner Generation“ gilt. Und selbst wenn man derlei Ranking-Phrasen aus der Medienmaschine nicht allzu viel Bedeutung beimißt, ist im Fall Day-Lewis’ zu sagen, daß der Superlativ nicht von ungefähr kommt. Wie jetzt auch ANEMONE zeigt. Der Film, mit dem der Schauspieler nach acht langen Jahren der Abwesenheit auf die Leinwand zurückkehrt. Und das so, wie es sich für ihn gehört.

Nämlich in einem abgründigen, kraftvollen, auch rätselhaft irrlichternden Drama. Und mit einer ebensolchen Hauptfigur: Ray heißt der Kerl, der der Welt den Rücken gekehrt hat, der zurückgezogen in einem kleinen Haus tief im Wald und nah am Meer lebt; irgendwo in Yorkshire, irgendwann Ende der 80er-Jahre. In Schweigsamkeit und Stoizismus geht Ray seinem Einsiedlerdasein nach. Und strahlt dabei eine Körperpräsenz aus, in der etwas Gefährliches, etwas fast Un- oder auch Übermenschliches zu lauern scheint. Eine Kommt-mir-bloß-nicht-zu-nahe-Aura, die selbst Rays Bruder Jem vorsichtig innehalten läßt. 20 Jahre haben die zwei sich nicht gesehen. Und die Gründe dafür sind so triftig und schmerzhaft, wie es jetzt auch die für Jems überraschenden Besuch bei seinem Bruder sind.

Natürlich wird Ray von Day-Lewis gegeben. Die Rolle ist ihm auf den Leib geschrieben, doch dazu gleich. Erst einmal ist nämlich unbedingt Sean Bean zu erwähnen. Spielt der doch durchaus auf Augenhöhe mit Day-Lewis, wenn er seinen Jem als einen Mann zeichnet, der seelisch robuster wirkt, als er es ist. Der im Glauben Kraft und Halt findet oder auch nur sucht und dabei seine täglichen Gebete so spricht, als würde er Gewichte wuchten. Ray, der jedweden Glauben längst verloren hat, wird Jem dafür verhöhnen. Und doch verbindet die Brüder ein symbiotisches Verhältnis, eine Zuneigung in Schmerz, ein Zu-viel-übereinander-Wissen, ob dessen man sich lieber meiden würde, ohne es letztlich aber zu können.

ANEMONE ist ein Film über eine janusköpfige Bruderliebe. Über Familie, Väter und Söhne. Über Männerbilder. Ein Film auch über die Schatten des Nordirlandkonfliktes. Und über die eines Traumas, denen sowohl Ray als auch Jem jeder auf die ihm gemäße Weise zu entkommen suchen. Und ANEMONE ist ein Film darüber, wie diese Schatten sich ausbreiten, weiter vererben auf die nächste Generation. Auf Brian etwa, diesen sanften jungen Mann mit Neigung zu eruptiven Gewaltausbrüchen. Brian ist Jems Ziehsohn – und das leibliche Kind Rays.

Gedreht hat ANEMONE Ronan Day-Lewis. Es ist das Regiedebüt des Sohnes von Daniel Day-Lewis. Beide haben gemeinsam das Drehbuch geschrieben. Und man mag sich, sieht man jetzt den Film, schon mal fragen, wer von ihnen die Hauptimpulse für die Charakterzeichnung des Ray geliefert hat. Für diese übergroße und abgrundtiefe Figur der krassen Schattierungen, die der 68jährige Day-Lewis mit einer schon animalisch-vitalen Körperlichkeit ausstattet – und ihr zugleich eine Unzahl flirrend zarter Nuancen verleiht. Sich hineinwühlend in die geschundene Seele dieses Mannes und dessen Inneres mehr und mehr, bis zur emotionalen Schmerzgrenze, nach außen stülpend.

Das ist tatsächlich Schauspielkunst, so dicht, aufgeraut, intensiv und auf den Punkt, wie man sie nur selten zu sehen bekommt. Und das gilt ausdrücklich auch eingedenk gelegentlich aufglimmender Manierismen, die man, kleinkariert gestimmt, fraglos monieren könnte. Ein wenig kleinkariert fühlt es sich dann prompt auch an, anmerken zu müssen, daß ANEMONE nicht frei von Schwächen ist. Vor allem dann, wenn der Handlungsfokus von Ray und Jem in ihrer Waldeinsamkeit hinüber zu Brians Verlorenheit und in kleinstädtische Gefilde wechselt, strauchelt die Erzählung. Denn so wichtig beide Stränge dramaturgisch auch sind, bremsen sie sich mitunter in einer zu abrupten und zu stark auf Parallelität kaprizierten Montage gegenseitig aus. Was man einem Regiedebüt, zumal einem solchem, freilich getrost nachsehen darf. Denn packen, nachwirken und in Erinnerung bleiben – und das kann man versprechen – wird dieser Film aus ganz anderen Gründen.

[ Steffen Georgi ] Steffen mag unangefochten seit frühen Kindertagen amerikanische (also echte) Western, das „reine“ Kino eines Anthony Mann, Howard Hawks und John Ford, dessen THE SEARCHERS nicht nur der schönste Western, sondern für ihn vielleicht der schönste Film überhaupt ist. Steffen meint: Die stete Euphorie, etwa bei Melville, Godard, Antonioni oder Cassavetes, Scorsese, Eastwood, Mallick oder Takeshi Kitano, Johnny To, Hou Hsia Hsien ... konnte die alten staubigen Männer nie wirklich aus dem Sattel hauen.