Originaltitel: MÉDECIN DE CAMPAGNE

F 2015, 102 min
FSK 0
Verleih: Alamode

Genre: Tragikomödie, Poesie, Schicksal

Darsteller: François Cluzet, Marianne Denicourt, Isabelle Sadoyan, Félix Moati

Regie: Thomas Lilti

Kinostart: 08.09.16

1 Bewertung

Der Landarzt von Chaussy

Nachdrücklich leises Hohelied auf die Humanität

Sogar im Wartezimmer einer Klinik läßt sich neben reißerischem Regenbogenjournalismus und deprimierenden Woran-Sie-zukünftig-sicher-leiden-werden-Broschüren manchmal interessante Lektüre finden. Neulich der Erfahrungsbericht einer Krankenschwester, welche ihren Arbeitsplatz verlegte, nachdem die Chefetage baff erstaunt erkundete, warum sie denn eigentlich mit den Patienten sprechen wolle ... Ein Hoch aufs Gesundheitssystem – wer dessen Schattenseiten schon wortwörtlich am eigenen Leib kennenlernen durfte, wünscht sich beim nächsten Mal dringend eine gute Seele zur Seite. So wie den titelgebenden Dr. Jean-Pierre Werner: Obwohl selbst schwer erkrankt (inoperabler Hirntumor), kümmert sich Werner unbeirrt um seine Dorfgemeinschaft. Einfache Leute, jeder kennt jeden, man unterstützt einander, und doch liegt eine alte Dame mit offenem Bein allein zu Hause. Werner kommt vorbei, sieht, packt an, hilft, fährt weiter.

Daß ZIEMLICH BESTE FREUNDE-Star François Cluzet den Doc spielt, ist zweifellos ein darstellerischer Gewinn, aus Sicht der Erwartungshaltung indes potentielles Problem. Wem es nämlich jetzt schon aus den Augen leuchtet, im Kopf lacht und kurz unter dem Herzen schmerzt, der löse sich schleunigst vom Hoffen auf eine indirekte Fortsetzung des Publikumsrenners. Klar, DER LANDARZT VON CHAUSSY verfügt über Humor, nur muß man schon genau aufpassen, um die wohldosierten Einsprengsel nicht zu versäumen. Selbstverständlich geht es auch emotional zu, bloß klingen die Gefühlstöne hier oft derart leise, daß mancher sie überhören mag. Wirklich handlungsträchtige Szenen fehlen nahezu gänzlich, was am Verzicht auf eine komplexe Geschichte liegen dürfte. Als Werner eine gut gemeinte weibliche Unterstützung aufgezwungen wird, entfaltet sich zwar ansatzweise das, was man Plot nennen möchte, weil die Ärztin Nathalie Delezia nicht allein im Körper der hinreißenden Marianne Denicourt steckt, sondern außerdem gegen Vorurteile, das Landleben inklusive garstigen Getiers und Werners sture Ablehnung ankämpft. Trotzdem geht es eigentlich nie darum. Kein Nachteil, wie sich deutlich zeigt.

Regisseur Thomas Lilti, selbst ausgebildeter Mediziner, setzt auf geradezu schwebendes Bebildern, neugieriges Beobachten, mitfühlendes Annähern. Unabhängig davon, was gerade Aufmerksamkeit erfordert, Werners sukzessive verschlechterter, ohne Sensationsgier umrissener Gesundheitszustand vielleicht, Delezias Bemühen, schüchterne Jungs zum Fall der Unterhose zu bewegen, oder die Klarstellung, daß Autismus und geistige Behinderung zwei verschiedene Sachen sind: Lilti rückt niemandem auf die Pelle, er beweist Respekt, überrascht andernorts durch unerwartete Westernromantik und hat überall entdeckenswerte Details, wie eine Kinderzeichnung an der Wand, versteckt. Sein Film, diese Verbeugung vor der Menschlichkeit, schnurrt dabei präzise wie ein Uhrwerk und fließt geradewegs der Seele zu.

Scheinbar fragte sich Lilti als Co-Autor schließlich, wie das einzig richtige Finale aussehen und sich anhören mochte. Wenig überraschend fand er erneut die fulminanteste aller Lösungen: Nina Simone stimmt plötzlich „Wild Is The Wind“ an, jene 1966 zu Noten geformte, kämpferische Todtraurigkeit, welche nun leiser Hoffnung die Hand reicht, das abschließende Bild nicht besser untermalen könnte und ein einzigartiges Kinoerlebnis perfektioniert, dessen weitaus stärker gefühlte denn gesehene Qualität auf längere Sicht noch regelrecht verfolgt.

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...