Originaltitel: DRUK

DK 2020, 117 min
FSK 12
Verleih: Weltkino

Genre: Drama

Darsteller: Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsen, Magnus Millang, Lars Ranthe

Regie: Thomas Vinterberg

Kinostart: 22.07.21

12 Bewertungen

Der Rausch

Spiegeltrinken mit Kierkegaard – Das Tagebuch einer versuchten Lockerung

Nach ein paar Gläsern Alkohol neigt der Mensch zum philosophischen Exkurs. Nach dem berüchtigten Glas zu viel neigt er sich über die Sanitärkeramik. Zwischen geselliger Entspannungsübung und sozialem Totalausfall liegen Winzigkeiten. Ein halbes, ein viertel, ein achtel Promille, Momente der Klarsicht und solche der Eintrübung, Geistesblitze und Katergejammer. Auf diesem schmalen Grat läßt Thomas Vinterberg vier Männer entlangtorkeln, die des Geradeauslaufens müde sind. So müde. Dafür hat der Volksmund einen Begriff: Midlife-Crisis. Er meint damit meist schütteres Haar, eingezogene Schmerbäuche, Äußerlichkeiten, Lächerlichkeiten, die man einfach wegschmunzeln kann. Aber als die kleinstädtischen Gymnasiallehrer Martin, Tommy, Nikolaj und Peter zu einem dieser mit den Jahren verhaltener gefeierten Geburtstage zusammenkommen, gerät das Schmunzeln zu einem kaum zu bewältigenden Kraftakt. Nein, keiner bricht wirklich in Tränen aus. Nur still wird es manchmal. Dann denkt Martin an seine von Gewohnheit erstickte Ehe und all die aufgegebenen beruflichen Ambitionen. Dann denkt Tommy an sein Eigenheim, in dem keine Frau mehr wartet. Dann denkt der eine an dünnstimmige Gesangseleven und der andere an eine von Smartphones abgelenkte Schülerschaft. Und dann kommt den vier in Melancholie versinkenden Musketieren mit gesichertem Pensionsanspruch die Idee zu einem Experiment …

Vinterberg kennt sich aus mit Experimenten. Sein Inzestdrama DAS FEST war eines davon, wahrscheinlich das, was, mindestens in Filmlexika, auf ewig überleben wird – als Nummer Eins nach den Vorgaben des von ihm und Lars von Trier verfaßten Keuschheitsgelübdes „Dogma 95.“ Mehr als 20 Jahre ist das her, in denen sich beide Filmemacher mehrfach häuteten und emanzipierten: voneinander, von Regelzwängen und zwanghaften Regelbrüchen. Eine ganze Kinogeneration konnte Film für Film verfolgen, wie sie sich dennoch treu blieben, und zwar in ihrer Radikalität. Bei von Trier ist die lauter, oft sogar schrill. Bei Vinterberg fällt sie leiser aus, zugänglicher, aber doch nicht weniger verstörend.

Die Versuchsanordnung, die er in DER RAUSCH aufbaut, gibt sich wissenschaftlich. Denn seine Probanden berufen sich auf den Psychiater Finn Skårderud und dessen These, nach der dem Menschen zum Menschsein das nötige halbe Promille fehle. Also trinken sie, noch bevor es zur ersten Stunde läutet. Den steigenden Alkoholpegel, manchmal auch die Uhrzeit kann man schwarzen Zwischentafeln entnehmen, wie sich der Alltag verändert, ist auf offener Szene zu betrachten. Aber welche Moral sich daraus ergibt? Das läßt Vinterberg in der Schwebe – wie sich überhaupt das Schweben, im Rausch des Anfangs, im Zurauschen auf das Ende, als eigentliches Thema herausstellt. Noch bevor in seinem Film das erste Bild gesetzt, das erste Glas geleert ist, zitiert er den Philosophen und Theologen Kierkegaard: „Was ist die Jugend? Ein Traum. Was ist die Liebe? Der Inhalt des Traums.“ In diesem dänischen Gymnasialuniversum ringen Traum, Inhalt und Sehnsucht nach der Sehnsucht um dialektische Balance. Auf feuchtem, nicht fröhlichem Boden.

[ Sylvia Görke ]