D/Österreich 2019, 218 min
FSK 6
Verleih: GMfilms

Genre: Dokumentation, Familiensaga

Regie: Thomas Heise

Kinostart: 26.09.19

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Heimat ist ein Raum aus Zeit

Flirrendes Leben

Aus 40 privaten Aktenordnern schöpft Thomas Heise Material für seinen 218 Minuten langen Dokumentarfilm, der 100 Jahre umspannt. Heise liest aus Briefen, Tagebüchern und Schriften seiner Familie und verwebt sie mit langen Einstellungen von alten Fotografien und Dokumenten, kombiniert mit Schwarzweiß-Aufnahmen aus der Gegenwart. Wir sehen die Schauplätze Zerbst, Wien oder Berlin im Heute. Aber auch nicht verortete stille Natur, verwachsen und menschenleer.

Der Film beginnt 1912 mit einem Schulaufsatz des Großvaters Wilhelm und endet mit Heiner Müllers „Eine Glosse zum deutschen Augenblick“ und dem bevorstehenden Tod von Rosie, Heises Mutter im Jahr 2014. Der Schrecken der deutschen Geschichte zeichnet sich in den Gedankenplätzen der Familie ab, in der drängenden Notwendigkeit, sich zu schreiben und zu erfahren. Und es wird klar, inwieweit kleinere Zufälle und Zusammenhänge über Zeiten hinweg gravierenden Einfluß auf den Fortlauf der Geschichte haben. Hier spielt sich Heises private Familiengeschichte im Bezug zur großen deutschen Historie ab.

Als letzter Überlebender der Familie kommentiert Heise nicht. Berührend ist sein rohes Einsprechen der Sätze Anderer, die sich durch das gesamte 20. Jahrhundert ziehen und bei ihm landen. Wir blicken lange auf Landschaften, in denen keine Attraktionen passieren. Heises Dokumentarismus wirkt klar, ästhetisch und rauh. Doch was entsteht, ist fein und poetisch. Das Zitat „Man kann sich Geschichte länglich denken, sie ist aber ein Haufen“ aus seinem Film MATERIAL führt er zehn Jahre später in HEIMAT IST EIN RAUM AUS ZEIT weiter, wenn nach einer 22minütigen Kamerafahrt über die Deportationslisten von jüdischen Menschen in Wien Marika Rökk „Schau nicht hin, schau nicht her, schau nur geradeaus“ singt und zehn starre Einstellungen von Stein-, Erd- und Holzhaufen folgen, die in einer Spannung aus Direktheit und Beiläufigkeit flirren.

Der Film erzeugt Randnotizen, die unmittelbar und assoziativ direkte Verknüpfungen beim Zuschauer im Heute herstellen. Die Autobahn bekommt Risse und bricht auf. Züge, eine der Hauptmotiviken, ziehen sich wie Lebenslinien durch den Film. So ist ein Geschichtsverständnis auch die andauernde Suche nach dem Verhältnis und offenbart sich in seinen Fortschreibungen.

[ Katharina Wittmann ]