Originaltitel: PATIENTS

F 2016, 111 min
FSK 6
Verleih: Neue Visionen

Genre: Drama

Darsteller: Pablo Pauly, Soufiane Guerrab, Moussa Mansaly, Nailia Harzoune

Regie: Grands Corps Malade, Mehdi Idir

Kinostart: 14.12.17

3 Bewertungen

Lieber leben

Mit Humor und Empathie gegen einen miesen Verräter

245. Das ist die genaue Anzahl der Quadrate in der Deckenlampe. Benjamin hat ausreichend Zeit, derartigen Quatsch immer wieder durchzuzählen. Er wird das Bett erst einmal nicht verlassen, ein Unfall, der vielmehr jugendliche Blödheit war, sorgt dafür, daß Bewegung im eigentlichen Sinne momentan nicht drin ist. Obwohl, ein bißchen was geht bei seinem Halswirbelbruch ja doch: Der große Zeh am linken Fuß funktioniert recht prächtig.

Mit sanftem Humor erzählen die Regisseure Grands Corps Malade und Mehdi Idir von einer wahrlich beschissenen Situation. Benjamin, ein noch junger, selbstbewußter Kerl mit Träumen vom Sportstudium, findet sich in einer für ihn ungekannten Lage wieder: wehrlos. Die Schwestern sind ruppig, die Pfleger verquatscht, Privatsphäre scheint ein Fremdwort im Klinikalltag, und die Psychologin hat vielleicht doch selber ein Rad ab. Und trotzdem und gerade deswegen rettet sich Benjamin immer wieder selbst mit seinem Humor. Klar, seine Ungeduld steht ihm im Weg, und doch machen ihm die kleinen Schritte Mut, an seinen Träumen festzuhalten. Ein Erwachen, ein sich rührender Zeh, irgendwann sind die letzten Schläuche weg, das richtige Atmen muß gelernt werden, das Sitzen im Rollstuhl, und auch die Tränen der Eltern werden trocknen.

LIEBER LEBEN ist ein Schicksalsfilm, aber eben keiner, der versucht, den Zuschauer plump zu überrumpeln, Empathie entsteht von ganz allein, ohne falsches Sentiment, durch die glaubwürdigen Figuren, die Rückschläge, die Fortschritte. Und es ist doch normal, daß es einen zu Tränen rührt, wenn die auch hilflosen Eltern Benjamins wacklige Hoffnung verbreiten wollen: „Großer, die OP ist gutgegangen ...“ Die Regisseure gesellen dem jungen Kerl herrliche Typen an die Seite. Allesamt jugendlich und wie Benjamin an den Rollstuhl gebunden, erobern sie gemeinsam das Klinikterritorium, der Joint macht seine Kreise, und irgendwann, in einem geradezu befreienden Moment, ist Benjamins sympathisches Lächeln zurück – als er Samia im Flur begegnet.

LIEBER LEBEN verschafft Einblick in einen von Routine und Überforderung gezeichneten Klinikalltag, man geht gewiß nicht dümmer aus dem Film, wenn man etwas mehr von Tetraplegikern und Paraplegikern weiß, und doch ist der Film alles anders als „theoretisch“, denn er erzählt vom Leben. Und dazu gehören leider zu schnelle Motorräder, leere Schwimmbecken und manchmal auch Schußverletzungen und Suizidversuche. Klarkommen ist die Herausforderung, und Benjamin und seine neuen Freunde Farid, Steeve und Toussaint halten sich mit sympathischem Witz über Wasser. Einer geht so: „Das Blöde an Mädchen im Rollstuhl ist, daß man nicht weiß, ob sie einen dicken Hintern haben.“ Humor ist das vielleicht probateste Mittel, um mit zerplatzten Träumen, dieser immensen Wut (auch auf sich selbst) und dem miesen Verräter namens Schicksal klarzukommen.

Durch die Begegnung Samias und Benjamins erzählt LIEBER LEBEN auch eine Liebesgeschichte, eine vage sicherlich, voller zärtlicher Momente auch, etwa, wenn sich die beiden die Hände streicheln. Der Film ist geerdet, keine rosa Wattewölkchen werden aufgefahren, jeder ist erst einmal für sich allein und auch irgendwie für sich allein verantwortlich. Es ist in diesem hinreißenden Film kein Platz für Zuckerguß, für Hoffnung schon. Das macht den, seinen Figuren vom Pech aufgedrängten, Rhythmus aus einem Schritt, zwei Schritten und saftigem Rückschritt so authentisch.

Wie nebenher gelingt es den Filmemachern, von einer universellen Angst zu erzählen, die uns alle packt, völlig egal, ob gesund oder gelähmt: die vor der Schnelligkeit da draußen.

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.