Originaltitel: SAINT OMER

F 2022, 123 min
FSK 12
Verleih: Grandfilm

Genre: Drama

Darsteller: Kayije Kagame, Guslagie Malanda, Valérie Dréville

Regie: Alice Diop

Kinostart: 09.03.23

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Saint Omer

Medea in Nordfrankreich

Daß Frauen und insbesondere Mütter die besseren Menschen sind, ist ein weitverbreitetes Klischee: liebevoll, umsorgend, aufopfernd. Umso größeres Entsetzen löst es aus, wenn eine Mutter ihr Kind umbringt. Nach einem realen Fall erzählt die Filmemacherin Alice Diop die Geschichte einer jungen Senegalesin, die ihr Kleinkind im Atlantik ertränkt hat. Laurence Coly, so ihr Name im Film, gab an, Hexerei habe sie zu dieser Tat getrieben. Diese irrational anmutende Erklärung stand in krassem Gegensatz zur überdurchschnittlichen Intelligenz der Philosophie-Studentin aus Paris.

Dokumentation und Fiktion gehen in SAINT OMER ineinander über. Diop läßt den damaligen Gerichtsprozeß in wesentlichen Teilen nachspielen. Formal ist das eher spröde umgesetzt und erinnert von der Inszenierung her stark an ein Theaterstück. Umso größeren Raum geben die langen, statischen Einstellungen den ausdrucksstarken Gesichtern der Schauspielerinnen.

Die Gerichtsszenen werden um eine fragmentarisch erzählte, fiktive Rahmenhandlung ergänzt: Die Schriftstellerin Rama wohnt dem Prozeß als Gast bei, um darüber zu schreiben. Es gibt einige Parallelen im Leben der Zuhörerin und der Angeklagten: Beide sind als intellektuelle, farbige Frauen Außenseiterinnen in der weißen Mehrheitsgesellschaft, gleichzeitig spüren sie den Druck ihres Herkunftsmilieus, unbedingt erfolgreich sein zu müssen. Beide leben mit einem hellhäutigen Partner zusammen und haben eine schwierige Beziehung zu ihren Müttern. Rama erwartet ein Kind und ist unsicher, wie sie zu ihrem künftigen Muttersein steht. 

Und doch ist es die Rolle als Mutter, welche Frauen unabhängig von Hautfarbe und sozialem Status miteinander verbindet. So läßt das Verbrechen der Angeklagten weder Richterin noch Anwältin unberührt. Nur die Angeklagte bleibt fast bis zum Schluß rätselhaft verschlossen. Diop macht in ihrem Film ein weites Feld an Interpretationsmöglichkeiten auf. Es geht ihr nicht darum, Erklärungen zu finden für etwas, das schlicht nicht zu erklären ist – wohl nicht einmal für die Täterin selbst. Ob es nun eine psychische Erkrankung, der Druck unerfüllbarer Erwartungen oder schlicht Gefühlskälte war, welche Coly zu ihrer Tat trieben, bleibt offen. Konsequenterweise wird am Ende kein Urteil verkündet.

[ Dörthe Gromes ]